Eiszeit in Bozen
Mein Konto ist
überzogen, und ich …«
Sifu Jochen runzelte die Stirn. »Vera, ich bin nicht nur dein
Wing-Tsun-Trainer, sondern auch ein guter Freund. Und ein geduldiger Mensch.
Aber du solltest das nicht überstrapazieren.«
»Es tut mir leid. Ich war leichtfertig und habe …«
Sein Blick wanderte nach unten und blieb an ihren Füßen haften. »Du
hast dir schon wieder Schuhe gekauft. Bald stellst du Imelda Marcos in den
Schatten.« Er grinste. Einen Lidschlag später wurde er wieder ernst. »Bei Geld
hört die Freundschaft auf.«
»Schon klar. Ich werde den Betrag überweisen. Bitte gib mir noch
drei Wochen.«
Das Handy vibrierte in ihrer Hosentasche. Sie zog es heraus.
Mutter. Immer im falschen Moment.
Ungeduldig drückte sie den Anruf weg und steckte das Handy wieder
ein.
»Kannst du nicht wenigstens einen Teil zahlen?«
»Nein. Es war Blödsinn, Schuhe zu kaufen. Das sehe ich ein. Aber
bitte sei jetzt nicht kleinlich. Du wirst nicht verhungern, wenn ich erst in
drei Wochen bezahle.«
»Es geht ums Prinzip, weißt du? Gleiches Recht für alle. Wenn ich
drei Wochen warten muss, muss ich dir Verzugszinsen und eine Mahngebühr
berechnen.«
»Was? Das ist ja nicht dein Ernst!« Wut kochte in ihr hoch. »Das ist
Wucher!« Sie schnaubte. Niemals hätte sie Jochen für so geldgierig gehalten.
»Es gibt genau zwei Möglichkeiten. Entweder unsere Freundschaft ist dir eine
Gnadenfrist von drei Wochen wert, zinsfrei, oder ich kündige!«
»Unsere Freundschaft oder deine Mitgliedschaft im
Wing-Tsun-Verband?«
»Beides«, zischte sie. »Und zwar fristlos.«
Jochen bog den Kopf zurück. Er lachte, bis seine Augen tränten.
»Entschuldige, Vera, aber du bist einfach herrlich, wenn du wütend bist.
Natürlich kannst du in drei Wochen zahlen.« Er zwinkerte. »Ich hab doch nur
Spaß gemacht. Hast du wirklich geglaubt, dass ich dir Zinsen …?«
»Schöner Spaß.« Vera biss sich auf die Lippen. Dann musste sie
selbst lachen.
Jochen zerknüllte den Zahlschein und warf ihn in hohem Bogen in den
Papierkorb.
»Danke.« Wieder ging ihr Handy los. Wieder war Mutter die Anruferin.
Jetzt nicht. Vera drückte auf den roten
Knopf.
»Übrigens … Es gibt tolle Neuigkeiten. Halt dich fest.«
Sie hob die Brauen. »In Sachen Band? Hast du einen Gig klargemacht?«
»Und was für einen.« Jochens Augen strahlten. Mehr als seinen Beruf
als Kampfkunsttrainer liebte er den Jazz. Vor etlichen Jahren hatte er »The Old
Papas’ Jazzquintet« gegründet. Jochen war der Bassist der Truppe und ihr
Manager. Obwohl die alten Herren alle die fünfzig überschritten hatten und nur
zwei von ihnen Berufsmusiker waren, hatten sie ein professionelles Niveau und
überregionale Bekanntheit erreicht. »Den Gig der Gigs«, sagte Jochen und
verschränkte die Arme.
»Wow, ich freue mich für euch. Wo spielt ihr denn?«
»Was heißt ihr? Ich hoffe, du bist mit von der Partie.« Er grinste
Vera an. Seit sie ihn auf seiner Geburtstagsparty mit einigen Jazzstandards
überrascht hatte, engagierte er sie immer wieder für Auftritte mit seinen
»Papas«. Bisher hatte es sich allerdings um schlecht bezahlte Gigs in kleinen
Jazzcafés gehandelt.
»Jetzt mach’s nicht so spannend. Um welchen Schuppen geht es
diesmal?«
»Kein Schuppen. Eine Alm. Die Steinalm in Saalfelden.«
Vera schnappte nach Luft. »Saalfelden? Du meinst jetzt aber nicht
das …« Der Gedanke war so kühn, dass sie ihn nicht aussprechen konnte.
»Doch.« Jochens Blick wurde feierlich. »Das Saalfeldener
Jazzfestival ruft.«
Ungläubig schüttelte sie den Kopf. »Das ist wieder einer deiner
Witze.«
»Keinesfalls. Ich hoffe, du hast am 28. August noch nichts
anderes vor. Es gibt gute Kohle. Da ist bestimmt das eine oder andere Paar
Schuhe drin. Und ein Monatsbeitrag für Wing Tsun.« Er zwinkerte.
»Mensch! Das ist ja der Hammer! Wie hast du das geschafft?« Sie
umarmte Jochen, der sie bei den Schultern packte und im Kreis herumwirbelte.
Vera hatte Mühe, auf ihren High Heels das Gleichgewicht zu halten.
»Wir springen ein. Eine österreichische Band musste wegen einer
Terminkollision absagen. Bist du dabei?«
»Glaubst du, ich lasse mir Saalfelden entgehen? Ich bin doch nicht
bescheuert!« In diesem Augenblick vibrierte ihr Handy zum dritten Mal. Mutter.
Merkwürdig. Sie ist doch sonst nicht so
aufdringlich.
Diesmal nahm Vera den Anruf an.
»Mama?«
Es knackte. Jemand
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