Eiszeit in Bozen
Meter, glitt sie
an der Eiswand hinab. Ein eisiger Hauch schlug ihr aus der Tiefe entgegen. Sie
konnte jeden ihrer Atemzüge sehen.
So etwas liebte sie. Die Extremsportlerin in ihr war erwacht, ihre
Unruhe verflogen. Sie dachte nicht mehr an das heraufziehende Inferno. Sie
allein in dieser Wand, was für ein geiles Gefühl! Die Spalte wurde nach unten
hin breiter. Als sie den Grund endlich erkennen konnte, waren die Eiswände drei
Meter voneinander entfernt. Ihre Füße setzten auf dem Eis auf.
Schwach drang das Tageslicht bis in diese Tiefe vor, Mauracher
musste ihre Stirnlampe einschalten. Ein letzter Blick auf Winnies Karte.
Ungefähr zweihundert Meter bergab nach rechts, dann musste ein Weg in das Eis
hineinführen. Ein Gang, eine kleine Halle, schließlich noch ein Gang, der in
die alte Kaverne führte.
Hoffentlich fand sie Bellinis Freundin. Zu dumm, dass ihr Baroncini
nicht mehr gesagt hatte, was Oberrautner verlangte. Der Vice-Questore hatte
zugehört und gesagt: »Ziehen Sie das durch, Mauracher. Viel Glück.« Dann hatte
er aufgelegt.
***
Ultental, 14.05 Uhr
In einem Einsatzwagen der Carabinieri rasten sie das Tal
hinauf, gefolgt von fünf weiteren Fahrzeugen, davon zwei Jeeps, beladen mit
hochalpiner Ausrüstung. Es hatte fast zwanzig Minuten gedauert, bis die ersten
Einsatzkräfte den Abzweig zum Waalweg erreichten und sie einsteigen konnten. In
diesen zwanzig Minuten war das Wetter komplett umgeschlagen. Nachdem sich das
Gewitter rasch verzogen hatte, klarte es kurzfristig auf. Ein scheinbar ganz
normaler Sonntag im beschaulichen, friedlichen Südtirol. Dann tauchte über der
Texelgruppe eine pechschwarze Wand auf. In Minutenschnelle hatte die Front die
Gebirgsgruppe überwunden und zog rasch weiter südwärts in Richtung Ultental.
Als sie in den Wagen der Carabinieri steigen konnten, waren die umliegenden
Berggipfel bereits in den Wolken verschwunden.
Auf der Fahrt ins Val Vermiglio wurde es Nacht um sie. Der Wind
legte zu, pfiff unheimlich durch die Weinberge. Erste dicke Tropfen fielen auf
die Scheiben des Polizeiwagens. Hatte das Außenthermometer gerade noch über
zwanzig Grad Celsius angezeigt, so sank die Temperatur mit dem einsetzenden
Regen binnen weniger Minuten um zehn Grad. Danach wurde es weiterhin kälter,
aber nicht mehr so rapide. Aus den Regentropfen war inzwischen heftiger
Dauerregen geworden. Unaufhörlich trommelte er auf den Einsatzwagen, so laut,
dass sie schreien mussten, um sich zu verständigen.
Als sie in den Tunnel des 1.781 Meter hohen Hofmahdjoches
einfuhren, schneite es heftig, und die Temperatur lag knapp über dem
Gefrierpunkt. Es war nasser Schnee, der auf dem warmen Boden nur allmählich
liegen blieb. Auf der Südseite des Tunnels schneite es nicht mehr, das
Thermometer zeigte plus sechs Grad. Das bedeutete, dass sich die Front exakt
auf der Passhöhe befand. Innerhalb kürzester Zeit würde sie das Val Vermiglio
erreichen und dort mit voller Wucht wüten.
Sie hatten das Radio angeschaltet, um den neuesten Wetterbericht zu
hören. Der Sprecher berichtete von schweren Schäden, die das Unwetter in
Deutschland und Österreich angerichtet hatte. Es gab erste Todesopfer, die
meisten von umstürzenden Bäumen erschlagen. Garmisch-Patenkirchen stand unter
Wasser. Jetzt schneite es dort bereits bis auf siebenhundert Meter herab. Der
Brenner wurde in diesen Minuten geschlossen. Der Wetterdienst rechnete damit,
dass es zwei Tage und Nächte ohne Unterbrechung schneien würde. Bis in die
deutschen Mittelgebirge würde es einwintern.
»Das war’s!«, schnauzte Vincenzo seinen Vorgesetzten von der Seite
an. »Gianna hat keine Chance mehr. Wahrscheinlich holt Oberrautner sie und
setzt sie schutzlos auf dem Gletscher aus. In ein paar Tagen sagt er uns, wo
wir graben sollen. Das ist Ihre Schuld! Warum haben Sie mich nicht abdrücken
lassen?«
Bei Vincenzos harschen Worten stieß Baroncinis Toleranz an ihre
Grenzen. »Mäßigen Sie Ihren Ton, Commissario! Bleiben Sie sachlich, denken Sie
logisch! Wenn Mauracher Gianna schnell findet, schafft sie es noch, mit ihr
runterzukommen, bevor der Sturm schlimmer wird. Wenn nicht, ist es ohnehin zu
spät. Selbst wenn Sie abgedrückt hätten – bei dem Tempo, mit dem die Front
vorrückt, hätte Oberrautner ohnehin keine Chance gehabt, rechtzeitig bei seinem
Opfer zu sein. Halten Sie sich vor Augen, wie lange er bis ins Val Vermiglio
braucht!«
Den Rest der Strecke schwiegen sie. Die Front hatte sie binnen
weniger Minuten wieder
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