Eiszeit in Bozen
ihren Rucksack ab, ging in die Hocke, um nicht von
einer Sturmböe umgeweht zu werden, und packte rasch ihren großen Biwaksack aus.
Sie dankte sich selbst für ihre Weitsicht. Der Sturm zerrte an dem Stoff. Wenn
er ihr den Sack entriss, wäre sie den Elementen schutzlos ausgeliefert. Unter
Aufbietung aller Kräfte und mit höchster Konzentration schaffte sie es, den
ausgerollten Biwaksack auf das Eis zu legen, samt Gepäck hineinzukriechen und den
Reißverschluss zu schließen.
Jetzt konnte sie nur noch beten. Beten, dass der Wind nicht weiter
zulegte, keine großen Hagelkörner fielen, das Gewitter lediglich ein Vorbote
der Kaltfront war. Und dass sie in einer Wetterpause noch genug Zeit für ihre
Rettungsaktion hatte. Falls Gianna überhaupt hier war. Blitz um Blitz zuckte um
sie herum, erleuchtete ihren Biwaksack taghell, Donnerschläge folgten im
Sekundentakt. Gottlob ließ nun das Prasseln der Hagelkörner nach, offenbar
schneite es jetzt nur noch.
***
Lana, 13.10 Uhr
Baroncini rannte los, schrie: » Avanti ,
zum Auto, schneller.« Vincenzo hatte den Vice-Questore bald eingeholt, während
Marzoli ihnen langsam und schwer atmend folgte. Nicht zum ersten Mal wurde ihm
bewusst, dass Barbara schon recht hatte mit ihren eindringlichen Warnungen, er
sollte ernsthaft über seine Lebensweise nachdenken.
Vincenzo blieb stehen. »Warum rennen Sie so, Dottore? Es ist doch
vorbei, Oberrautner entkommt uns nicht.«
»Später, Bellini, los, zum Auto, laufen Sie!« Er drehte sich zu
Marzoli um. »Vorwärts, Ispettore, sonst fahren wir ohne Sie los!«
Vincenzo erreichte als Erster den Wagen. Er sah sofort, dass alle
vier Reifen professionell zerstochen waren. Keuchend kam auch Baroncini an, sah
das Dilemma.
»Was für ein Mist, damit habe ich nicht gerechnet.« Er kramte sein
Handy aus der Jackentasche, um den Bereitschaftsdienst anzurufen.
»Was ist denn los, Vice-Questore?«, fragte Vincenzo nervös.
Baroncini winkte ungeduldig ab, rief in sein Handy: »Alle
verfügbaren Einheiten sofort in Richtung Ultental, die Carabinieri in Lana
anrufen, sie sollen uns auf dem Weg dorthin am Waalweg einsammeln. Prüfen Sie,
welche Einsatzstellen im Trentino besetzt sind, im Bereich des Val Vermiglio.
Fordern Sie einen Hubschrauber an, um das Tal zu überwachen.«
Baroncini gab noch eine ganze Reihe weiterer Anweisungen durch. Es
war kein Zufall, dass Oberrautner den Sonntag für das Ende seines widerwärtigen
Spiels gewählt hatte. Es würde eine Ewigkeit dauern, bis die ersten
Einsatzwagen eintrafen. Im abgelegenen Val Vermiglio passierte selten etwas,
das die Polizei interessierte. Wenn überhaupt, dann waren die Stationen am
Wochenende nur schwach besetzt.
Als Baroncini das Telefongespräch beendete, hörte er das laute
Keuchen Marzolis, der sich am Rande der Erschöpfung auf der Motorhaube
abstütze. Erst jetzt registrierte der Vice-Questore den fragenden Blick seines
Commissario. »Ich muss Ihnen etwas beichten, Bellini«, sagte er. Ohne
Umschweife gestand er seine Notlüge.
Vincenzo, der in den letzten Minuten ein Gefühl der totalen
Erleichterung gespürt hatte, sackte kreidebleich in sich zusammen. »Warum haben
Sie das getan? Warum?«
Baroncini packte seinen Commissario an den Schultern und schüttelte
ihn. »Weil es meine verdammte Pflicht ist, Sie zu schützen! Begreifen Sie das?
Mauracher ist auf dem Gletscher. Sie hat ein paar Stunden Vorsprung. Gleich
rückt die Kavallerie an. Bleiben Sie bitte optimistisch!«
Vincenzo blickte seinen Vorgesetzten aus leeren Augen an.
»Optimistisch? Haben Sie eine Vorstellung, wie viele Gletscher es da unten
gibt, Vice-Questore? Wie groß ist die Chance, dass Mauracher den richtigen
erwischt hat? Wenn das schiefgeht, haben Sie Gianna auf dem Gewissen!«
Ein paar dicke Tropfen klatschten auf das Autodach. Aus Richtung
Meran sahen sie einen schwachen Schauer auf sich zukommen. Dahinter konnte man
schon wieder die Sonne erahnen. Wind und Donnergrollen hatten nachgelassen. Es
wurde auf einmal warm, fast schwül. Der Wetterbericht behielt doch recht,
Mauracher hatte eine ganz kleine Chance.
Ein schwacher Trost für Vincenzo, den der Vice-Questore jetzt
fragte: »Seien Sie ehrlich, Commissario, hätten Sie abgedrückt?«
»Ja!«
»Sicher? Ansetzen ist das eine, abdrücken etwas gänzlich anderes.«
Müde rieb sich Vincenzo mit Zeigefinger und Daumen die Augen. »Ich
weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht. Nur eines weiß ich: Wenn Gianna
dafür bezahlen muss, dass ich es
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