Eiszeit in Bozen
Wanderung ein lebensbedrohlicher
Drahtseilakt, erst recht, wenn man ein geschwächtes Entführungsopfer bei sich
hatte. Das Wetter hielt zwar noch, und der Wind war weniger heftig als in
Bozen, doch der Wetterbericht war eindeutig. Trotz ihres Gepäcks ging sie immer
schneller. Dann musste sie einen Tunnel durchqueren. Zum Glück hatte sie an
ihre Stirnlampe gedacht.
An einem Linksabzweig, der zurück ins Val Vermiglio führte, änderte
sich der Charakter des Weges. Er wurde steiler, war aber nicht mehr ausgesetzt.
Bald hatte sie die längst geschlossene Schutzhütte erreicht. So gut das
Tauwetter der Vortage für ihren Plan war, so schlecht war es, um festzustellen,
ob vor Kurzem jemand hier gewesen war. Sie konnte in dem harschigen, festen
Schnee keine Spuren mehr erkennen. Es war nicht herauszufinden, ob an diesem
Tag schon jemand vor ihr die Hütte auf dem Weg zum Gletscher passiert hatte.
Beängstigend.
Sie ging zügig an der Hütte vorbei, war kurz darauf am Rand des
Gletschers. Im Vergleich zum Adamellogletscher handelte es sich um ein eher
kleines Eisfeld, doch wenn man direkt davor stand, wirkte es riesig. Und
bedenklich steil. Wenn ihre Eiserfahrung sie nicht im Stich ließ, hatte der
Gletscher im oberen Teil eine Neigung von mindestens fünfzig Grad. Das
schafften nur die draufgängerischsten Skifahrer. Wäre sie zum Vergnügen hier,
hätte sie die Herausforderung begeistert. Mit der Bedrohung durch den Entführer
und dem aufziehenden Unwetter im Nacken machte es ihr ein wenig Angst.
Die milchige Sonne reflektierte von der Eisfläche. Ihre
Gletscherbrille schützte sie dagegen. Plötzlich nahm sie einen Schatten wahr,
der, von Norden kommend, rasch über den Gletscher zog. Sie schaute zum Himmel.
Wie aus dem Nichts und mit hoher Geschwindigkeit war eine hohe, kompakt
wirkende Wolkendecke aufgezogen. Minuten später war die Sonne ganz
verschwunden, der Wind legte zu. Sie begann sofort zu frösteln. Es war, als
wäre von einem Moment zum nächsten der Winter hereingebrochen. Doch es war nur
der verschwundene Sonnenschein, der sie frieren ließ. Die Temperatur hatte sich
kaum verändert. Es ging auf halb eins zu. Kippte das Wetter früher als
angekündigt? Weiterhin kein Handyempfang.
***
Lana, 12.30 Uhr
Vincenzo hatte das Einzige getan, was in dieser abstrusen
Situation möglich war. Er hatte alle Beteiligten informiert, einschließlich
Paci, die anhand einer Schnellanalyse unter dem Mikroskop feststellen konnte,
ob die Haare in dem Brief mit denen an Giannas Bürste identisch waren. Aber er
wusste es auch ohne Rechtsmedizin. Er kannte Giannas Haare, ihren Glanz, ihren
Duft. Und es beantwortete nicht die Frage, ob sie noch lebte. An diesem Punkt
stießen die Möglichkeiten der Rechtsmedizin an ihre Grenzen.
Vincenzo war hochkonzentriert, hatte jegliches Gefühl in einem
inneren Käfig eingeschlossen. Er hatte noch immer keine Ahnung, was er um
dreizehn Uhr machen würde.
Als er in Sarnthein das Haus verließ, hatte es vom Hauptkamm her
zugezogen. Noch immer warme siebzehn Grad, doch das würde sich schlagartig
ändern. Der Wetterbericht hatte sich geirrt, es würde früher losgehen, denn die
Front kam viel schneller über den Hauptkamm als vorhergesagt. Ein Wunder war
das Einzige, was ihm jetzt noch helfen konnte.
In der Questura hatten ihn die Kollegen mit betretenen Mienen
erwartet. Baroncini versuchte eindringlich, ihn davon zu überzeugen, die Waffe
keinesfalls gegen sich selbst zu richten. Vincenzo hatte gesagt: »Wenn es so
weit ist, weiß ich, was ich tue.«
Sie fuhren los.
Um Viertel nach zwölf standen sie am Eingang zum Marlinger
Waalweg, wenige Minuten später an der Bank. Sie hatten die Umgebung mit den
Augen abgesucht. Umsonst, Oberrautner war nirgendwo zu sehen.
Die Sonne war inzwischen verschwunden, es wurde immer dunkler, der
Himmel war von einer lückenlosen Wolkendecke überzogen. Der Wind hatte
abgeflaut. Die berüchtigte Ruhe vor dem Sturm. Vincenzo blickte kopfschüttelnd
ins Tal hinunter. Was für eine bizarre Situation. Drei Männer vor einer
einsamen Bank. In sicherer Entfernung hat sich jemand versteckt, der sie
beobachtet. Zwei Männer fangen an, ihr Equipment auszupacken und vorzubereiten.
Der dritte Mann wartet darauf, sich zu erschießen.
In einer halben Stunde war es so weit. Instinktiv griff er an sein
Halfter. Warum hatte er Mauracher nicht erreicht, warum war sie nicht in die
Questura gekommen? Wie es wohl Gianna gerade erging? Sie lebte noch, es konnte
gar
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