Eiszeit in Bozen
Das Wolkenbild, die Wetterlage
erzeugten inzwischen eine beängstigende Atmosphäre. Der Wind war vollkommen zum
Erliegen gekommen, absolute Flaute. Die Wolkendecke schien aus sich selbst
heraus dunkler zu werden und nach unten zu sinken. Sie kam den Gipfeln immer
näher, bewegte sich aber kaum noch vorwärts. Lediglich die im Hochgebirge bei
einem Wetterumschwung typischen tieferliegenden Wolkenfetzen zogen gleichmäßig
nach Südosten.
Seit sie losgegangen war, hatte sich der Himmel von einem
transparenten Weiß über ein immer düsterer werdendes Grau zu tiefem, fast
schwarzem Dunkelgrau mit bizarren Blau- und Grüntönen verfärbt. Solche
bedrohlichen, unwirklichen Szenarien kannte sie von Sommertagen, ehe ein
heftiges Gewitter losbrach. Es war totenstill. Nichts regte sich, kein
Lüftchen, kein Lebewesen. Ihre Kenntnisse in Wetterkunde beschränkten sich zwar
auf das, was sie in ihren Alpinlehrgängen gelernt hatte, aber das reichte, um
zu erkennen, dass sich zusätzlich zu der anrückenden Kaltfront eine
Gewitterzone gebildet haben musste. Möglicherweise aus dem Ortlergebiet
kommend, diesen Schluss ließen jedenfalls die tiefen Wolken zu, die aus dieser
Richtung heranzogen. Das hieß, dass in Bozen vielleicht noch strahlender
Sonnenschein herrschte, während hier in wenigen Minuten ein Gewittersturm
losbrechen würde. Eins war klar: Egal, ob er selbst die Kälte brachte oder sich
in der feuchten Mittelmeerluft gebildet hatte, in dieser Höhe würde es
schneien. Oder gar hageln! Sie war froh, dass sie an ihren Steinschlaghelm
gedacht hatte.
Sie schaute noch einmal auf die Skizzen ihres Opas. Wenn es in
diesem Gletscher alte Stellungen gab, lag der Zugang eindeutig in der
langgezogenen, kaum mehr als einen Meter breiten Querspalte. Sie stieg direkt
darauf zu. Die Wegverhältnisse auf dem Gletscher waren äußerst schwierig.
Verharschter Schnee, dazwischen blankes Eis, dann wieder weicher Schnee, in dem
sie einsackte. Ihre Steigeisen halfen ihr nicht. Sie wurde langsamer, die
Wolken dunkler. Ein Blick auf ihr Handy: zwei Balken! Endlich!
So ein Ärger, sie hatte Bellinis Nummer nicht eingespeichert. Was tun?
Ihr fiel ein, dass Baroncini sie damals wegen des Feuerteufels angerufen hatte.
War er in Vincenzos Nähe? Hatte er sie damals vom Handy aus angerufen oder aus
der Questura? Sie ging die Anrufliste durch. Gott sei Dank, es war das Handy
gewesen. Sie drückte »Anrufen«.
Als hätte sie mit diesem Knopfdruck höchstpersönlich das Inferno in
Gang gesetzt, ertönte aus Westen ein verhaltenes, lang anhaltendes tiefes
Donnergrollen. Ein leichter Wind kam auf. Sabine Mauracher erfasste eine tiefe
Unruhe.
***
Lana, 12.59 Uhr
Vincenzo hielt sich mit der linken Hand die Waffe ans Ohr.
Er hatte sich entschieden. Gianna lebte noch, Oberrautner würde Wort halten.
Sie käme nicht in die Psychiatrie, weil sie eine starke Persönlichkeit hatte.
Sie würde bald wieder in der Kanzlei arbeiten, die Familie käme darüber hinweg,
seine Eltern auch. Gianna würde einen Mann kennenlernen, einen Rechtsanwalt,
Mailänder, mit dem sie glücklich würde. Es lag nur an ihm, Vincenzo.
Baroncinis Camcorder lief. Er stand auf einem Stativ. Von irgendwoher
ertönte ein Donnergrollen. Wurde es kühler, oder bildete sich Vincenzo das ein?
Erst in dieser Sekunde rannen ihm Tränen über die Wangen. Hatte er noch vor
wenigen Minuten Hass empfunden, sich schreckliche Racheszenarien ausgemalt, in
diesem Augenblick war ihm Oberrautner egal. Er blickte auf seine Stoppuhr am
linken Handgelenk. Dreißig Sekunden. Er schloss die Augen.
Plötzlich meldete sich das Handy des Vice-Questore. Vincenzo öffnete
automatisch die Augen und ließ die Waffe ein wenig sinken. Baroncini nahm das
Gespräch verdutzt an.
»Mauracher am Apparat, Vice-Questore. Gut, dass ich Sie erwische,
ich bin auf dem Presanellagletscher.«
Baroncini hörte mit höchster Konzentration zu. Es war dreizehn Uhr.
Vincenzo war durch das Gespräch abgelenkt, vergaß die Zeit für einen Moment.
Baroncini hörte, dass Mauracher Gianna suchte und es für möglich hielt, dass
sie sich im Gletscher der Presanella befand. Sie habe in diesem Moment den
Einstieg gefunden. Leider scheine das Wetter umzukippen, sie sollten ihr alle
verfügbaren Einsatzkräfte schicken. Baroncini nickte mehrfach.
Plötzlich ertönte aus den Weinbergen eine Stimme: »Die Zeit ist
abgelaufen, mein Freund. Drück ab oder lass es! Gianna oder du!«
Reflexartig wirbelte Vincenzo herum, konnte aber den
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