Eiszeit in Bozen
merken, dass Sie bald nicht mehr wegkommen, weil Sie
einschneien, fahren Sie lieber ein Stück runter. Ich bin auf meinen Skiern bis
zur Straße unten sowieso schneller als Sie. Stellen Sie sich am besten mitten
auf die Straße, damit niemand an Ihnen vorbeikommt.«
In der sechsten Kehre lag genug Schnee für seine Skier, doch er war
zu nass. Mühsam vorwärtsstapfend kämpfte sich Vincenzo durch die pappige Masse,
die so schnell anwuchs, dass er mit bloßem Auge zusehen konnte. Der Wind
heulte, es gab keine Wolkenlücke. Der absolute Wahnsinn!
***
Im Gletscher, 15.45 Uhr
Mauracher hatte Gianna tief hinter den Eisvorsprung
gezogen, signalisierte ihr mit dem Zeigefinger auf den Lippen, absolut ruhig zu
sein. Ihr Herz raste. Doch der Mann mit der Maske, der in diesem Moment aus dem
Eiskanal in die Kaverne trat, bemerkte nichts. Er ging zielstrebig auf das Zelt
zu, schien sich absolut sicher zu fühlen. Für einen kurzen Augenblick waren die
Frauen ungedeckt. Hätte er in diesem Moment nach rechts geblickt, hätte er sie
gesehen.
Doch er ging weiter, ohne sich umzudrehen. Mauracher kroch ein wenig
hinter dem Vorsprung hervor, um ihn zu beobachten. Der Mann blieb vor dem Zelt
stehen und rief: »Gianna, ich bin es. Kommen Sie bitte aus dem Zelt heraus? Wir
müssen etwas besprechen, es gibt Neuigkeiten.« Seine Stimme klang sanft,
zugleich auffallend tief und männlich.
Ein Schauer lief Mauracher über den Rücken. Sie zog Gianna sanft am
Ärmel und raunte ihr zu: »Langsam und ohne einen Mucks in den Eisgang. Jetzt!
Drehen Sie sich nicht um, schauen Sie nur nach vorne. Okay?«
Gianna setzte sich zögernd in Bewegung. Alles in ihr wehrte sich
dagegen, diesen Ort zu verlassen. Nachdem die erste Angst verflogen war, hatte
sie sich hier zunehmend geborgen gefühlt. Zu ihrem Entführer hatte sie
Vertrauen entwickelt, weil er offen zu ihr war, zuvorkommend, höflich,
anständig, sogar sanftmütiger als ihr Commissario. Jetzt sollte sie ihn auf
diese Weise hintergehen? Einen Moment überlegte sie, diese junge Polizistin
wegzuschicken und umzukehren. Als sie einen sanften Stoß in den Rücken spürte,
ging sie weiter.
Sie hatten den Gang erreicht, Mauracher drehte sich um. Der Mann
hatte sich hinabgebeugt, begann, den Reißverschluss des Zeltes zu öffnen. Es
wurde höchste Zeit.
Sie stieß Gianna abermals an, schnell verschwanden sie beide im Gang.
Im Gehen flüsterte Mauracher Gianna zu: »In ein paar Sekunden weiß er, dass Sie
weg sind. Mit ein bisschen Glück schaut er sich zuerst in der Kaverne um. Unser
Vorsprung ist hauchdünn. Also vorwärts!«
Der Mann blickte irritiert in das leere Zelt. Es dauerte einige
Sekunden, bis er begriff. Er suchte die Kaverne nicht ab, sondern drehte sich
um die eigene Achse und sagte mit einer schaurig angehobenen Stimme: »Gianna,
Gianna, wo sind Sie denn? Haben Sie sich versteckt? Sie wissen doch, dass Sie
ohne mich hier nicht wegkommen. Sie müssen mir vertrauen, verstehen Sie? Wir
sind doch so ein tolles Team. Ich bringe Sie jetzt raus! Gianna, Gianna, Gianna …«
Mauracher hörte seine Worte durch den Gang hallen und wurde von
panischer Angst gepackt. Die Art, wie dieser Typ sprach, war krank. Da klang
purer Sadismus durch. Wenn er sie zu fassen bekam, war es aus. Das stand fest.
Ein lächerliches Pfefferspray würde ihn wohl kaum aufhalten. Er hatte einem
erwachsenen Mann mit bloßer Hand das Genick gebrochen! Nichts wie weg. Sie
erreichten den scharfen Linksknick.
»Schneller, Gianna, gleich rennt er los. Sie haben keine
Vorstellung, was in den letzten Tagen in Bozen los war. Wenn Sie das wüssten,
würden Sie um Ihr Leben rennen!«
Ungläubig drehte sich Gianna zu der jungen Polizistin um. Was
erzählte die für einen Quatsch? Wenn er sie umbringen wollte, hätte er es
längst getan. Dieses Mädchen kannte ihn nicht so gut wie sie. Trotzdem
beschleunigte Gianna ihren Schritt.
Der Maskierte stand vor dem Zelt, blickte in alle Richtungen. Wo
mochte Gianna sein? Im Eiskanal war sie ihm nicht begegnet, folglich musste sie
in der Kaverne sein. Es spielte keine Rolle. Sie würde ohnehin verrecken. Diese
Höhle war ihr Grab. Gianna, die Freundin des Commissario, tiefgekühlt und gut
erhalten. Er hätte ihr zu gerne zum Abschied erklärt, dass sie das einzig und
allein dem Geltungswahn ihres selbstgerechten Vincenzo zu verdanken hatte.
Die Frauen erreichten die zweite Eishalle. Mauracher hatte Gianna
inzwischen mit ihrer Panik angesteckt. Die Mailänderin hatte zwar keine
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