Eiszeit in Bozen
eingeholt. Gleichmäßig rückte sie vor, nichts konnte sie
aufhalten. Während sie unzählige steile Kurven umrundeten, mussten sie mit
Licht fahren, es goss in Strömen. Die Sicht war gleich Null. Der Sturm tobte
mit infernalischer Macht. Zweige und Äste flogen vor ihnen auf die Straße. Kein
Auto begegnete ihnen, in den kleinen Ortschaften war kein Mensch auf der
Straße.
Nein, dachte Vincenzo, da kommen weder Gianna noch Oberrautner raus.
Was auch geschah, er würde aufsteigen. Nichts konnte ihn aufhalten. Kein
Schnee, nicht dieser vermaledeite Sturm, schon gar nicht Oberrautner, diese
Ausgeburt an Perversion.
***
Val Vermiglio, 15.00 Uhr
Inzwischen hatte das Unwetter den südlichsten Teil der
Ostalpen erreicht. Der kleine Jeep quälte sich das Tal hinauf und fuhr in den
Bergwald hinein. Auf dem Gemisch aus Regenwasser und Schneematsch, das die
Straße mehr als einen Zentimeter hoch bedeckte, schwamm das kleine Fahrzeug
förmlich. Als es auf Höhe des abzweigenden Wanderweges anhielt, lag längst
dicker Neuschnee. Er stieg aus, ging zur Heckklappe, nahm Rucksack und Skier,
marschierte los, auf dem flachen Anstieg in den Wald hinein. Als er sich dem
Ausgang des Tunnels näherte, sah er vor sich einen Vorhang aus dicken
Schneeflocken, die durch die Luft wirbelten.
Trotz des tiefen Schnees ging er zügig und gleichmäßig weiter. Als
er die Schutzhütte passierte, blieb er stehen, um in seine Skier zu steigen.
Bald würde der Wanderweg enden und in steiles, wegloses Gelände übergehen, die
Sichtweite betrug nur noch fünfzig Meter. Dem Bergsteiger war es egal. Er
setzte den Rucksack auf, stieg auf seinen Skiern schnell weiter bergan. Den
Gletscher erreichte er nach einer halben Stunde. Ohne sich um die zahlreichen
Spalten zu kümmern, die durch den Neuschnee gefährlich verdeckt waren,
überquerte er den Gletscher fast bis zu seinem höchsten Punkt.
Er setzte den Rucksack ab, befestigte ein langes Seil am Rand des
Gletschers. Hätte ihm der Schneesturm nicht die Sicht genommen, wäre ihm
aufgefallen, dass dreißig Meter weiter oben bereits ein Seil schlaff in die
Gletscherspalte hineinhing. Mit katzenartigen, geschmeidigen Bewegungen seilte
er sich ab und ging sofort zielstrebig in Richtung Eiskanal.
***
Presanellagletscher, 15.15 Uhr
Sabine Mauracher hatte die vordere Halle erreicht. Von
hier gingen mehrere Gänge ab, aber nur einer führte zu einer weiteren, größeren
Halle. Die übrigen endeten mitten im Eis. Sie kramte Winnies Karte hervor.
Etwas stimmte nicht. Auf der Karte gab es acht Gänge, sie zählte jedoch bloß
sieben. Einen Gang hatte Winnie mit einem roten Kreuz markiert, das musste der
Zugang zu der großen Halle sein. Es war einer der Gänge auf der
gegenüberliegenden Seite, das war klar. Aber welcher von den dreien? Ene, mene,
muh … Was für ein Mist. Warum war hier ein Gang zu wenig? Ihr Opa war sehr
gewissenhaft, es musste passen! Unschlüssig marschierte sie vor den drei Gängen
auf und ab, spähte in jeden hinein, ging ein paar Meter, kam zurück. Sie blieb
stehen, betrachtete die gesamte Eiswand konzentriert und suchend.
Auf einmal schlug sie sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Warum
war sie nicht sofort darauf gekommen? Einer der Gänge war inzwischen
verschüttet, und zwar der zweite, links von ihrem Zugang aus gesehen. In der
Tat, die Eiswand zeigte Unebenheiten. Sie drehte die Karte in die korrekte
Position. Dann wusste sie, welchen Pfad sie einschlagen musste.
***
Val Vermiglio, 15.20 Uhr
Die Einsatzwagen kamen nur langsam voran. Eine Sintflut
ergoss sich über Südtirol und das Trentino, eine einzige dunkelgraue Masse,
durch die sie fast nichts sehen konnten. Der Wind pfiff, schüttelte sie durch,
aber er war hier im Süden weniger heftig als auf der anderen Seite des Passes.
Vincenzo warf einen verstohlenen Blick auf Marzoli, Baroncini, den Carabiniere
am Steuer. Wer von diesen Männern wäre in der Lage, bei einem Schneesturm über
einen ausgesetzten Pfad und einen Gletscher zu gehen? Marzoli würde das selbst
bei strahlendem Sonnenschein nicht schaffen. Und die anderen?
»Wie sollen wir vorgehen, Vice-Questore? Was haben Sie für einen
Plan?«
Baroncini sah Vincenzo in die Augen. »Ich glaube, ich weiß, was Sie
meinen, Commissario. Sie trauen uns nicht zu, mit Ihnen zu diesem Gletscher zu
kommen. Ich befürchte, Sie liegen richtig mit Ihrer Einschätzung. Sie werden
auf sich allein gestellt sein. Wir können nicht mehr tun, als Ihren Rückweg zu
sichern.
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