Eiszeit in Bozen
sie sich die
Flucht vorstellte. Gianna hörte entgeistert zu.
»Ich soll allen Ernstes eine Eiswand hinaufklettern und mit Ihnen im
Schneesturm auf einem Snowboard einen Gletscher runterrasen? Das kann doch nur
ein schlechter Scherz sein!«
Zu längeren Erklärungen blieb keine Zeit. »Ich weiß schon, was ich
tue, ich bringe Sie in Sicherheit. Kommen Sie, ziehen Sie sich alles über, was
Sie an warmen Klamotten haben. Das hier sind Grödeln. Binden Sie die unter Ihre
Schuhe, sonst kommen wir auf dem Eis nicht voran.«
Gianna mühte sich nach Kräften, kam aber mit den Eishilfen nicht
zurecht. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, wie sie funktionierten.
»Mein Gott, was dauert das!« Mauracher ging vor Gianna in die Knie.
»Geben Sie her, ich mache das.« Stand Bellini tatsächlich auf diesen Typ?
Hübsch war sie, diese Gianna, daran gab es keinen Zweifel, aber sie passte
überhaupt nicht zu einem Bergfreak. Die feine Dame aus Mailand, ganz etepetete.
Oder war es ihre Kohle, auf die er abfuhr? In dem Fall hätte sie sich gehörig
in dem smarten Commissario getäuscht. »Los jetzt, Oberrautner kann jeden Moment
hier sein. Dann ist es zu spät.« Mauracher schaltete sicherheitshalber die
kleine Lampe in Giannas Zelt ein und zog den Reißverschluss zu. Er sollte nicht
sofort sehen, dass sein »Einsatz« verschwunden war. Sie gingen los, näherten
sich dem Gang. Noch ein paar Minuten bis in die Freiheit.
Plötzlich vernahmen sie das Geräusch von Schritten auf Eis. Der
Entführer. Keine Zeit mehr zu entkommen. Mauracher war, abgesehen von einem
Pfefferspray, unbewaffnet. Eine eigene Dienstwaffe hatte sie noch nicht.
Sie blickte sich hastig um. Links vom Eingang, ungefähr fünf Meter
entfernt, gab es einen Eisvorsprung, groß genug, damit sich zwei erwachsene
Menschen dahinter verstecken konnten. Auf dem Weg zum Zelt gab es nur ein
kurzes Stück, wo sie Oberrautners Blick ausgesetzt wären. Er durfte sich auf
keinen Fall umdrehen.
»Vorwärts«, flüsterte Mauracher, »schnell dahinter. Wenn ich ›jetzt‹
sage, gehen Sie langsam und ohne sich umzudrehen in den Gang hinein. Ich werde
hinter Ihnen sein. Aber keinen Mucks, verstanden?«
***
Val Vermiglio, 15.35 Uhr
Die vier Einsatzwagen hatten ihre Positionen eingenommen.
Von seinem Versteck auf Höhe eines Sportplatzes konnte Baroncini so weit in das
Tal hineinblicken, wie es der dichte Regen zuließ. Er versuchte, über Funk
weitere Einsatzkräfte anzufordern, doch es gab niemanden mehr. Höher gelegene
Stationen im Norden waren bereits durch meterhohe Schneeverwehungen von der
Außenwelt abgeschnitten. Im oberen Ahrntal waren vierzig Zentimeter Schnee
gefallen. Und das war nur der Anfang. Was für ein Himmelfahrtskommando für
Bellini.
Welche Ironie des Schicksals. Vor zwei Stunden hatte Bellini im
Sonnenschein seine Waffe angesetzt. Jetzt ging er im schlimmsten Unwetter, das
Südtirol je erlebt hatte, auf einen Gletscher. Eine möglicherweise tödliche
Mission.
Die beiden Jeeps hatten die asphaltierte Buckelstraße jenseits des
»Chalet Al Foss« erreicht und fuhren langsam bergan. Allerdings hatte sich die
Straße durch die Niederschläge in einen reißenden Bach verwandelt. Selbst die
für Extremsituationen geschaffenen Geländewagen drohten immer wieder, von der
Straße abzukommen. Links von ihnen ging es durch den steil abfallenden Bergwald
in eine tiefe Schlucht. Vor der zweiten Kehre, auf tausendfünfhundert Metern,
wurde der Regen zu Schnee, bald fiel er in dicken, schweren Flocken wie eine
weiße, undurchdringliche Wand. Das Thermometer zeigt knapp über null, doch der
Schnee blieb liegen. Die Jeeps hatten Allradantrieb, aber noch keine
Winterreifen. Mitten in der zweiten Kehre mussten sie passen.
Der Carabiniere am Steuer wandte sich mit traurigem Blick nach
hinten um. » Scusi , Commissario, ab jetzt müssen Sie
leider zu Fuß weiter.«
Mit einem Satz war Vincenzo draußen, befand sich inmitten des
Schneesturms, dessen Ausmaß er erst in diesem Augenblick erfasste. Er hob
Rucksack und Skier, die die Einsatzkräfte mitgebracht hatten, aus dem Auto.
Über tausend Meter musste er aufsteigen, mit Gepäck, durch den Sturm, bei
schnell anwachsender Schneedecke. Dabei bestand immer die Gefahr einer
möglichen Konfrontation mit Oberrautner. Obwohl es vermutlich aussichtslos war,
Gianna oder Mauracher oder beide zu finden, lief er los, nachdem er die
Carabinieri gebeten hatte, die Jeeps zu wenden, um jederzeit abfahrbereit zu
sein. »Wenn Sie
Weitere Kostenlose Bücher