Eiszeit in Bozen
Ahnung,
warum sie davonlief, aber sie spürte die Bedrohung. Die Polizistin eilte voran,
sie hatte Gianna angewiesen, immer direkt hinter ihr zu bleiben. Sie liefen
schneller.
Als sie fast am zweiten Eiskanal waren, der zum Fuß der
Gletscherspalte führte, geschah es. Gianna, die nicht trittsicher und durch
ihren langen Aufenthalt in der Eiswüste geschwächt war, rutschte trotz der
Grödeln aus. Sie fiel der Länge nach hin, stürzte mit voller Wucht auf das
harte Eis. Reflexartig riss sie die Hände nach vorn, dennoch schlug sie sich
beide Knie auf. Vor Schmerz und Überraschung stieß sie einen lauten Schrei aus,
der unwirklich vom Eis widerhallte und sich rasend schnell durch die engen
Eiskanäle verbreitete. Mauracher blieb wie angewurzelt stehen, starrte auf die
mit schmerzverzerrtem Gesicht am Boden liegende Gianna. Mit vielem hatte sie
gerechnet, damit nicht.
***
Val Vermiglio, 15.50 Uhr
Das Wetter wurde zusehends schlechter. In die
Wassermassen, die sich auf tausendzweihundert Metern Höhe über Vermiglio
ergossen, mischte sich zunehmend Schnee. Dazu tobte der Sturm mit
unverminderter Wucht. Baroncini hielt ständig Funkkontakt mit der Zentrale, die
ihn laufend über die Entwicklungen informierte. Im Pustertal hatte es erste
Erdrutsche gegeben, kleinere Dörfer in den Nebentälern waren von der Außenwelt
abgeschnitten. In einigen Gebieten waren allein in der ersten Stunde bis zu
dreißig Liter Regen gefallen. In dem Tal in der Nähe des Brenners schneite es
schon fast bis an Brixen heran. Die Wetterberichte verstärkten ihre
Unwetterwarnungen mit jeder Aktualisierung. Zwar sank die Schneefallgrenze
schneller als angenommen, aber nichts deutete darauf hin, dass das Toben dieser
Jahrhundertfront in den nächsten Stunden nachlassen würde.
Der Vice-Questore fühlte sich machtlos. Zuerst waren sie der Willkür
eines Irren ausgeliefert gewesen, jetzt, wo sie ihn vielleicht hätten erwischen
können, spielte das Wetter verrückt. Erstmals in seiner Karriere spürte er
völlige Resignation. Bellini mochte ein durchtrainierter Bergsteiger sein,
diesen Naturgewalten hatte auch er nichts entgegenzusetzen. Er ahnte, dass er
seinen Commissario nicht lebend wiedersehen würde.
***
Vincenzo kämpfte sich durch den dichten Schneefall den Berg
hinauf. Wenigstens hatten ihm die Kollegen hochwertige Ausrüstung mitgebracht.
Ein ultraleichtes, wasserdichtes Beta FL Jacket von Arcteryx, einen hochwertigen Windstopper von North Face,
hervorragende Funktionswäsche. Trotzdem hatte er das Gefühl, dass Wind und
Nässe den Weg zu seiner Hautoberfläche fanden. Oder schwitzte er bloß so stark?
Noch war er auf der asphaltierten Straße, wo sich die Gefahren auf
möglicherweise umstürzende Bäume beschränkten. Bald ging es jedoch auf den
ausgesetzten Steig, der anfangs stets an einem steilen Hang entlangführte. Wie
groß war die Gefahr, dass sich bei diesen Niederschlagsmassen Erdrutsche
lösten? In dem Gelände gab es keine Deckung. Und er war noch lange nicht auf
dem Gletscher. Nein, es war wohl nicht zu schaffen. Unmöglich. Diese Erkenntnis
beruhigte sein Gewissen auf eine eigentümliche Weise. Hätte er Oberrautners
letzten Spielzug ausgeführt, wäre es für Gianna trotzdem zu spät gewesen. Weder
Vincenzo noch Oberrautner konnten Gianna aus diesem Inferno befreien. Und was
hatte Mauracher sich bei ihrer sinnlosen Suchaktion bloß gedacht? Selbst wenn
sie seine Freundin fand – wie wollte dieses dünne Persönchen mit Gianna im
Schlepptau das sichere Tal erreichen?
Er stapfte weiter durch den sich auftürmenden, nassen Schnee, der
inzwischen eine Höhe von fast zwanzig Zentimetern erreicht hatte. Vor ihm
tauchte ein Pfeiler mit Hinweisschildern auf. Knapp zwei Stunden allein bis zum
Rifugio Stavel. Bei gutem Wetter würde er keine Stunde brauchen. Heute schaffte
er das nicht. Er ging weiter.
***
Im Gletscher, 15.55 Uhr
Der Schrei war aus dem Eistunnel gekommen. Wie hatte sie
es geschafft, an ihm vorbeizukommen? Bemerkenswert. Aber sinnlos. Er lief los,
schnell, geübt, trittsicher.
Nach Sekunden der Schockstarre half Mauracher Gianna auf die Beine.
Sie hatte sich nichts gebrochen. Dann schob sie Gianna in den Tunnel, der in
die Freiheit führte. »Los, Sie müssen gegen den Schmerz angehen. Wir müssen
schnell raus, weg von hier, verstehen Sie?«
Gianna torkelte mehr als sie ging, langsam näherten sie sich dem
Ausgang. Fahles Licht schimmerte ihnen entgegen, ein Hauch von Tageslicht,
sofern man
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