Eiszeit in Bozen
sah er noch, wie die Frauen mit hoher Geschwindigkeit in diese Wand
eintauchten. Er stieß wüste Verwünschungen aus, rannte ein Stück den Hang hinab
zu seinen Skiern, die er innerhalb von Sekunden angelegt hatte. Er raste los.
Im Vorbeifahren nahm er wahr, dass die beiden den Rucksack hatten liegen
lassen. Vernünftig, kein unnötiger Ballast, wenn man die Verantwortung für eine
alpin unerfahrene Anwältin hatte.
Diese Gedanken schossen ihm durch den Kopf, während er bar jeglichen
Gefühls über das Eis jagte, ohne sich um die Gletscherspalten zu kümmern, über
die der Sturm vielleicht noch nicht genug Schnee gelegt hatte. Wer war das vor
ihm? Bellini konnte es nicht sein, der war groß und kräftig. Er ging im Geiste
die gesamte Besatzung der Questura durch. Ihm fiel niemand ein, der dazu
passte. Diese Jungpolizistin kam nicht in Frage. Eine Frau war körperlich zu so
etwas nicht in der Lage. Dieser Bergführer schied auch aus, der war größer und
hatte eine lange Mähne.
Er wurde immer schneller. Die ganze Welt schien an ihm
vorbeizurasen. Die Geschwindigkeit auf dem abschüssigen Gletscher, die
Schneemassen, die auf ihn einstürmten und sein Gesicht vor Eis erstarren
ließen, das Tosen des Sturms, all das versetzte ihn in einen rauschartigen
Zustand. Er war frei von Zeit und Raum.
Mauracher blickte sich nicht um. Alle Angst war vergessen, nun
wurde sie nur noch durch Adrenalin gesteuert. Diese Gianna machte ihre Sache
verdammt gut. Sie hatte mehr Kraft als erwartet, krallte sich an ihr fest,
unterließ heftige Bewegungen, die sie beide hätten ins Straucheln bringen
können, folgte instinktiv dem Schwung ihrer Befreierin. Sie musste zumindest
eine verteufelt gute Skifahrerin sein. Der Gletscher war äußerst steil. Nie
zuvor war sie solch einen abschüssigen Hang hinuntergerast, schon gar nicht im
Tandem und erst recht nicht bei einem Jahrhundertsturm.
Plötzlich tauchte vor ihnen eine Felsformation aus dem dichten
Einheitsgrau auf, sie rasten direkt darauf zu. Was im Anstieg so harmlos
aussah, dass die Polizeianwärterin gar nicht mehr daran gedacht hatte, war bei
einer Kollision in diesem Tempo tödlich.
Reflexartig wich Mauracher nach rechts aus, verfehlte den Fels um
Haaresbreite. Sie musste massiv abbremsen, um durch die Fliehkraft nicht auf
die Seite zu fallen. Die Anwältin reagierte eine Zehntelsekunde zu spät, trotz
des Bremsmanövers drohte das Snowboard zu kippen. Nur mit höchster
Konzentration und Kraftanstrengung konnte die Polizistin einen Unfall
verhindern. Hoffentlich hatte sie diese Aktion nicht ihren winzigen Vorsprung gekostet.
Im Schritttempo umrundete sie den Gesteinsbrocken, dann ging sie
erneut in die Hocke, um das Snowboard maximal zu beschleunigen. Abgesehen von
dem unerwarteten Ausweichmanöver folgte ihr Gianna in völliger
Bewegungsharmonie. Vielleicht war sie doch nicht so unsportlich, wie es
zunächst den Anschein hatte.
Mauracher erinnerte sich jetzt an die hinter ihnen liegende
Felsformation und wusste, dass sie den Gletscher inzwischen verlassen hatten.
Über zwanzig Zentimeter Neuschnee verhinderten, dass man den Unterschied
zwischen dem Gletscher und dem darunterliegenden Gelände erkennen konnte. Das
Refugio tauchte aus dem Nebel auf, sie befanden sich jetzt auf dem normalen
Wanderweg. Aber einerseits war der Pfad nicht mehr als solcher zu erkennen,
andererseits führte er weiter unten messerscharf am Abgrund entlang. Ein
Fehler, ein Moment der Unachtsamkeit, und Bellini könnte die Knochen seiner
Freundin in der Schlucht aufsammeln.
Er hatte sie gerade um den Fels brettern sehen. Perfekte Technik,
das Ganze auch noch im Tandem. Respekt. Trotzdem war er schneller, holte auf.
Das Rennen begann, ihm Spaß zu machen. Warum sollte er diesem blöden Fels
ausweichen? Es gab doch irgendwo einen Spalt. Er hielt voll auf die Felswand
zu. Dann sah er den schmalen Durchgang im Fels, nicht breiter als zwei Meter.
Ohne abzubremsen bretterte er darauf zu, raste durch die schmale Lücke. Sein
rechter Oberarm touchierte den Fels, seine Jacke riss auf, aber er blieb
unverletzt. Was für ein Kick! Das Refugio rauschte an ihm vorbei, Sekunden
später glitten seine Skier in den Bergwald hinein. Alles war tief verschneit,
der Weg, die Bäume, die Felsen. Es existierte nur noch eine Farbe.
Die Frauen hatten den flacheren Teil des Weges erreicht. Obwohl sie
langsamer wurden, schien die Felswand links an ihnen vorbei zu rasen. Die
Polizistin kümmerte sich nicht um den Abgrund, sie
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