Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eiszeit in Bozen

Eiszeit in Bozen

Titel: Eiszeit in Bozen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Rueth
Vom Netzwerk:
angesichts des Schneesturms überhaupt von Tageslicht sprechen
konnte. In diesem Moment hörte Mauracher die sich rasch nähernden Schritte
ihres Verfolgers. Sie packte Gianna am Arm und rannte los.
    Der Maskierte erreichte den zweiten Eisstollen, durch den er so
sicher rannte, als liefe er eine Straße entlang. Da war der Ausgang, er
blinzelte einen Moment gegen das schwache Licht. Dann sah er zwei Personen, die
sich an einem Seil die Spalte hochzogen. Er war konsterniert. Wer war die
zweite Person? War es tatsächlich möglich, dass sie Gianna gefunden hatten?
Hatte Bellini deshalb nicht abgedrückt? Hatten sie ihn getäuscht? Das würden
sie büßen! Dann gab es eben zwei Opfer, seine Schuld war es nicht.
    Er sprintete los, erreichte in Sekundenschnelle das Seil, das die
beiden Flüchtenden etwa zur Hälfte bewältigt hatten. Er analysierte die
Seiltechnik der beiden. Die zweite Person hatte Gianna mit einigen Karabinern
professionell gesichert. Obwohl sie kaum Armkraft einzusetzen schien, bewegten
sich die beiden zügig nach oben. Er hatte es mit einem Profi zu tun.
Interessante Herausforderung. Er unterließ den Versuch, seine Opfer durch
bloßes Rütteln am Seil zu behindern. Das würde diesem Kletterprofi wenig
ausmachen. Stattdessen setzte er an und zog sich ungesichert mit bloßer
Muskelkraft an dem Seil hoch.
    Mauracher hatte die Rechtsanwältin doppelt gesichert, mit einem
Express-Set am Seil und mittels Reepschnur an sich. Gianna konnte nicht
begreifen, wie jemand in Sekundenschnelle solche Sicherungen anbringen konnte.
Sie versuchte, sich mit eigener Kraft hochzuziehen, doch ihre Kräfte waren
begrenzt. Sabine Mauracher half ihr, sie hievte sich und Gianna mit den Armen
und einer Fußschlaufe nach oben, die sie bereits vorbereitet hatte, nachdem sie
sich in die Gletscherspalte abgeseilt hatte. Sie blickte nach oben. Ein fahles,
düsteres Licht fiel herein, das Pfeifen des Sturmes war zu hören, dicke
Schneeflocken wirbelten im oberen Teil der Spalte. Das Unwetter hatte begonnen.
    Ihr Verfolger hatte die ersten Meter zurückgelegt, zog sich mit
enormen Kräften schnell nach oben, kam näher. Unten ein Wahnsinniger, oben ein
Jahrhundertsturm. Toll, wirklich großartig. Bloß nicht nachdenken, nur handeln.
Mauracher spürte, wie ihr trotz der Kälte, die wie ein Amboss auf sie
herabfiel, der Schweiß in die Augen lief. Noch fünf Meter bis zum Rand der
Spalte, der Maskierte war zwanzig Meter unter ihnen. Zu wenig, um das Seil
durchzuschneiden. Vielleicht aber genug, um auf das Tandemboard zu springen und
zu fliehen. Noch einmal stieß sie sich mit voller Wucht mit dem Fuß in der
Seilschlaufe ab, dann waren sie oben.
    Sie zog sich und Gianna aus der Spalte, sprang sofort auf das
Snowboard. Das Inferno war in vollem Gange, über dem Gletscher tobte ein
Schneesturm apokalyptischen Ausmaßes. Die Sicht betrug keine zehn Meter, daher
sah sie auch nicht, dass die Skier des Verfolgers keine dreißig Meter weiter
unten im Schnee steckten.
    Mauracher ahnte, dass es dieser Sturm bis auf über einhundert
Stundenkilometer brachte. Dagegen war das vorgelagerte Gewitter ein laues
Lüftchen gewesen. Sie war fast froh, dass sie im Tandem abfahren konnten. Das
minderte die Gefahr, dass der Sturm sie wie ein Blatt über das Eis schleuderte.
    Die Polizeianwärterin schrie gegen den peitschenden Sturm an.
»Gianna, das ist ein Tandemboard. Ich klinke Sie mit Ihrem Fuß hier ein. Halten
Sie sich an mir fest, so kraftvoll, wie es geht. Achten Sie auf gar nichts,
sehen Sie nicht nach unten, blicken Sie sich nicht um, versuchen Sie bloß, ein
bisschen in den Knien zu federn und meinen Bewegungen zu folgen. Es wird hart,
sehr hart, wir dürfen uns keine Fehler erlauben, sonst schmieren wir ab. Und
wir haben kaum Vorsprung. Schalten Sie ab, lassen Sie es geschehen, bitte! Es
ist unsere einzige Chance.«
    Mauracher fixierte Gianna in Windeseile auf dem Snowboard, auf ihren
Verfolger achtete sie nicht. Sie wollte nur noch abwärts, weg von diesem
Gletscher, weg von diesem Geisteskranken, raus aus diesem Inferno. Sie wollte
leben!
    Verärgert nahm er zur Kenntnis, dass Gianna mit ihrem Retter den
Spaltenrand erreicht hatte. Dieser Teufel in Menschengestalt war mit der
Anwältin kaum langsamer als er allein. Unglaublich. Hoffentlich kam ihm seine
absolute Überlegenheit auf Skiern zugute.
    Er sprang aus der Spalte, blickte über den Gletscher hinab in die
Wand aus Schneefall und aufgepeitschten Eiskristallen. Im Bruchteil einer
Sekunde

Weitere Kostenlose Bücher