Eiszeit in Bozen
ihm betrat dieses Labyrinth aus vergessenen Gängen, jeder, der nicht wie
er gezwungen war, sich dieser beklemmenden Szenerie auszusetzen, machte einen
großen Bogen darum. Die vergitterten Fenster waren dreckverkrustet, sie ließen
keinen Blick nach draußen mehr zu und umgekehrt kaum Licht herein. Den ganzen
Tag brannten die vereinzelten Neonröhren, die noch intakt waren. Fast die
Hälfte blieb inzwischen dunkel, ausgetauscht wurden sie schon lange nicht mehr.
Einige flackerten wild, machten dazu unheimliche Geräusche, ein sicheres Zeichen
dafür, dass auch sie bald den Dienst verweigern würden.
Er schüttelte den Kopf. Wie war es in einem demokratischen Staat
möglich, einen Menschen solchen Arbeitsbedingungen auszusetzen? Warum hatte er
sich das all die Jahre gefallen lassen? War er tatsächlich so einsam und
verbittert, dass er sich das antun musste? War das, was für jeden normalen
Menschen ein Höllentrip war, für ihn ein Schutzraum? Schutz vor Kollegen, die
ihm zeigten, was für ein Versager er war, und sei es nur durch ein spöttisches
Lächeln? Stundenlang durfte er hier allein sein, mit sich und mit seinem
Patienten, dem er mehr vertraute als jedem anderen. Spätestens seit dem Tod
seiner Eltern hatte es in seinem Leben niemanden mehr gegeben. Keiner mochte
ihn, alle verachteten ihn. Konnte man innerlich dermaßen verkümmern, dass man
selbst so einen Horror als Trost empfand?
Für einen Augenblick konzentrierte er sich darauf, dem Widerhall
seiner Schritte zu lauschen. Befände sich jemand in einem der Seitengänge,
würde er dessen Schritte hören. Aber er hätte nicht sagen können, woher sie
kamen. Hier klang es stets, als ertönte das Echo von allen Seiten. Gruselig.
Und das mitten in Südtirol.
Endlich hatte er sein Ziel erreicht. Er gab den Nummerncode ein und
betrat die Zelle, die ein Jahr lang so etwas wie Heimat für ihn gewesen war.
8
Bozen, Mittwoch, 6. Oktober
Francesca Bartoli brauchte klare Ziele, detaillierte
Zeitpläne, Disziplin, stete Ordnung. Zweimal in der Woche, dienstags und
freitags, putzte sie ihre Wohnung, in der sie seit acht Jahren lebte. Jahraus,
jahrein nach demselben Schema: Staub saugen, Fliesenboden wischen, Bad und
Toilette reinigen. Jeden zweiten Freitag bearbeitete sie die Möbel mit dem
Staubwedel, die Fenster waren alle vier Wochen dran. Mit sich selbst ging sie
genauso sorgsam um. Ihre braunen Haare waren kurz geschnitten, das Gesicht
schmal und frei von jeglichem Make-up, dazu eine makellos glatte, reine Haut.
Sie hatte nicht ein Gramm Fett zu viel. Bei ihrer Kleidung achtete sie auf
Qualität, aber sie musste unauffällig sein, dezent. Sie trug prinzipiell keine
Röcke oder Blusen mit tiefem Ausschnitt. Für Frauen, die ihre Reize offen zur
Schau stellten, hatte sie kein Verständnis.
Donnerstags kaufte sie fürs Wochenende ein, im Supermarkt, der jede
Woche wechselnde Sonderangebote hatte. Zu diesem Anlass nahm sie das Auto,
einen Opel Corsa eco FLEX , der sonst oft tagelang
in der Garage stand. Trotzdem fuhr sie ihn alle drei Wochen nach dem Einkaufen
durch die Waschanlage. Sie hatte sich bewusst für ein verbrauchsarmes Fahrzeug
entschieden, sie fand es nicht sinnvoll, Geld in steigende Benzinpreise zu
investieren. Ihr war es wichtiger, möglichst viel zu sparen, um auf
unvorhergesehene Ereignisse vorbereitet zu sein.
Am Sonntag besuchte sie um zwölf Uhr ihre Eltern und aß mit ihnen zu
Mittag. Sie war meist um sechzehn Uhr wieder daheim. Sie brauchte diese klaren,
kalkulierbaren Abläufe und Zeitpläne. Wurde sie gezwungen, davon abzuweichen,
etwa, weil der Donnerstag ein Feiertag war, wurde sie schon Tage vorher nervös
und innerlich unruhig. Sie wusste nicht, warum sie so war, sah aber keinen
Grund, sich zu hinterfragen. Seit sie von zu Hause ausgezogen war, lief es nach
diesem Muster. Sie lebte allein, hatte keinen Freund, wusste nicht, ob sie
überhaupt bereit war, sich auf eine Beziehung einzulassen.
Seit acht Jahren arbeitete sie als Buchhalterin bei einem
Steuerberater. Sie betrat die Kanzlei jeden Tag pünktlich um acht Uhr dreißig.
In der ganzen Zeit hatte sie keinen Tag gefehlt. Dienstag und Donnerstag stand
sie um sieben Uhr zwanzig auf, duschte, frühstückte eine Tasse Kaffee und zwei
Scheiben Mehrkornbrot mit Honig. Die exakt neunhundertachtzig Meter bis zur
Kanzlei ging sie zu Fuß – bei jedem Wetter. Montags, mittwochs und freitags
stand sie schon um sechs Uhr auf. An diesen Tagen joggte sie, noch vor dem
Frühstück, eine
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