Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eiszeit in Bozen

Eiszeit in Bozen

Titel: Eiszeit in Bozen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Rueth
Vom Netzwerk:
schon in seinen Armen eingenickt, als sie auf einen
verspäteten Zug gewartet hatten.
    ***
    Ein Gletscher
    Die Herbstsonne schien milchig auf die weite Schneefläche,
auf der an einigen Stellen blankes Gletschereis zu sehen war. Der böige
Südwestwind trieb Schneeverwehungen vor sich her. Gleich filigranen
Luftgeistern wirbelten und tänzelten sie vor der Sonne, deren Strahlen die
feinen Eiskristalle wie Diamanten aufblitzen ließen. Weit und breit keine
Menschenseele, lediglich das leise Pfeifen des Windes störte die ansonsten
vollkommene Stille. Durch die tanzenden Eisschleier hindurch konnte man das
obere Ende des Gletschers erahnen, hinter dem sich die steile Nordflanke eines
Grates erhob. Im Übergang vom Eis zum Fels hatten die Schneemassen sowie die
Neigung des Gletschers im Laufe vieler Jahrhunderte riesige Spalten entstehen
lassen. Einige waren mehrere Meter breit. Canyons aus Eis, die bis zu sechzig
Meter in die Tiefe reichten.
    Es gab auch eine schmalere Querspalte, kaum breiter als ein Meter.
Man konnte vom Gletscher aus nicht erkennen, dass sie sich unten am Boden
verbreiterte, während sie sich hangaufwärts oben schloss. Am Fuß der Spalte
konnte man ungefähr fünfzig Meter weiter bergab gehen bis zu einer kleinen
Biegung, wo sich der Canyon erneut verjüngte und der Zugang zu einigen Gängen
ins Eis sichtbar wurde. Die meisten Pfade endeten nach wenigen Metern. Doch
einer von ihnen reichte tief in den Gletscher hinein. Er verzweigte sich,
führte durch eine Halle aus Frost. Blau schimmerte das Eis, es war, als ließe
es einen Hauch von Licht ins Dunkel. Am Eingang und in der Halle selbst lagen
weit verstreut rostende Metallrohre und Reste kleiner Holzbehausungen, die den
Eindruck erweckten, jemand habe vor langer Zeit hier gelebt. Über eine breite,
tiefe Eisspalte führte ein modernder Holzsteg. Ansonsten gab es nichts außer
Kälte. Man konnte keine Tageszeit und schon gar nicht die Jahreszeit erahnen.
Die einzigen Geräusche stammten vom fernen Rauschen eines Gletscherbaches und
vom Eis selbst, das permanent arbeitete. Es knirschte, ächzte, quietschte, mal
von der einen Seite, mal von der anderen, dann war es für einen Moment still
bis auf das leise Plätschern des Wassers. Die Kälte, das schwache bläuliche
Licht, die merkwürdige Geräuschkulisse erzeugten eine unheimliche Atmosphäre.
Unwirklich, fremd, bedrohlich. Nicht einmal die erfahrensten Bergführer fanden jemals
den Weg in diese Parallelwelt aus Eis.
    ***
    Bozen
    Vincenzo war um halb eins in der Trattoria. Zum Schluss
hatte er, weil er Aufräumen hasste und Hunger hatte, alles, was wichtig aussah,
in einigen Stapeln ohne jegliches Ordnungsprinzip zusammengefasst. Er verstaute
sie überall dort, wo die Aktenschränke noch ein freies Plätzchen boten. Jedes
Papier, das ihm unwichtig vorkam, wanderte in den Aktenvernichter. Er war
selbst erstaunt, wie viele unwichtige Dokumente es gab.
    Jetzt saß er mit seinen Eltern zusammen auf der Terrasse der
Trattoria und aß Spaghetti Aglio e Olio. Auf den Rotwein verzichtete er
entgegen seiner sonstigen Gepflogenheiten. Schließlich wollte er sich auf
seiner Bergstrecke verausgaben. Was seinen Vater Piero nicht davon abhielt, den
Fontalloro genießerisch in seinem Glas zu schwenken. »Schade, mein Sohn, dass
du dir das entgehen lässt. Ein reinrassiger Sangiovese aus dem Herzen der
Toskana. Bist du etwa unter die Abstinenzler gegangen?«
    »Quatsch, Papa, du weißt doch, dass ich vor dem Sport grundsätzlich
keinen Alkohol trinke. Das ist gefährlich.«
    »Ach, Junge, du und dein Sport. Ich finde, manchmal übertreibst du
es damit. Ich meine, welcher Mensch läuft freiwillig irgendwelche Steilhänge
rauf? Das ist bestimmt nicht gesund. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen,
dass ein Gläschen eines solch edlen Tröpfchens schädlich sein soll.«
    Antonia, die ihrem Mann kopfschüttelnd zugehört hatte, giftete ihn
von der Seite her an: »Was soll das? Freu dich lieber, dass dein Sohn so
vernünftig ist. Hör auf, ihn zum Trinken zu animieren. Schlimm genug, dass es
einen in der Familie gibt, der keinem Wein aus dem Weg gehen kann!«
    Es folgte das Unvermeidliche. Piero war ein ausgeglichener
Gemütsmensch, der versuchte, jede Auseinandersetzung zu vermeiden. Viel lieber
gab er selbst den Schlichter für andere. Doch er hatte eine Schwachstelle:
seine unbändige Lust, gut zu essen und zu trinken. Genuss hatte für ihn nichts
mit exzessiven Rauschzuständen zu tun, im Gegenteil, trieb man es

Weitere Kostenlose Bücher