Eiszeit in Bozen
eurer Klienten in die Toskana gefahren ist und du das vergessen hast?«
»Darauf bin ich auch schon gekommen. Ich habe in unserem
Terminplaner nachgesehen, da steht nichts. Im Moment bereitet sie eine Klage
für einen Klienten aus Mailand vor. Sie hat auch nur gesagt, dass sie krank
ist, sonst nichts. War irgendwas zwischen euch? Hattet ihr Streit?«
»Nein, Alfredo, im Gegenteil, wir hatten ein wirklich traumhaftes
Wochenende.« Vincenzo zwang sich, die Situation zu analysieren, methodisch,
logisch, kriminalistisch. Die Wohnung war leer. Was ließ das für
Schlussfolgerungen zu? Dass sie allen Ernstes durchgebrannt war? Ohne jeden
Grund? Ausgerechnet Gianna? Unmöglich. Dass ihr auf der Rückfahrt nach Mailand
etwas zugestoßen war? Unwahrscheinlich. Das war drei Tage her, sie wüssten es
längst. Außerdem hatte Gianna ihren Vater angerufen, um sich für ein paar Tage
zu entschuldigen. Es musste eine simple Erklärung für ihr Verhalten geben.
»Alfredo, wir wissen beide, wie zuverlässig Gianna ist. Ich glaube,
dass ihr euch verpasst habt. Bestimmt sitzt sie gerade in ihrem Auto. Sie will
vermutlich möglichst früh in die Kanzlei, um ihre Rückstände abzuarbeiten.«
»Ihr Fiat steht vor der Tür, Vincenzo. Es ist nicht so, dass mir
dieser Gedanke nicht auch als Erstes gekommen wäre. Außerdem sehe ich kein
Frühstücksgeschirr, die Spülmaschine ist leer. Ich kenne meine Tochter. Ohne
ein ausgiebiges Frühstück verlässt sie ihre Wohnung nicht.« Beide waren ratlos,
sie schwiegen sekundenlang.
Bis es Vincenzo wie Schuppen von den Augen fiel. Natürlich stand
nirgendwo Frühstücksgeschirr. Sie hatte eine heftige Magenverstimmung hinter
sich. Wer dachte da an Essen? In diesem Zustand setzte sie sich auch nicht ans
Steuer. Sie hatte sich ein Taxi gerufen. Er wollte Alfredo seine befreienden
Überlegungen gerade mitteilen, doch er kam nicht dazu.
Ein energisches Klopfen, die Bürotür schwang auf, dann stand die
zierliche Gestalt von Sabine Mauracher, einer Polizeianwärterin, die erst von
wenigen Wochen in die Questura gekommen war, vor Vincenzos Schreibtisch. »Einen
Moment bitte, Alfredo, bleib dran.« Vincenzo ließ den Hörer sinken und sah
Mauracher fragend an.
»Hallo, Commissario Bellini, vor ein paar Minuten ist ein Anruf in
der Zentrale eingegangen. Eine Joggerin hat eine Leiche entdeckt, die in der
Talfer rumschwimmt. Ich soll Ihnen Bescheid sagen!« Die freundlichen
hellbraunen Augen der jungen Frau waren ein interessanter Kontrast zu ihrer forschen
Art.
»Ich muss auflegen, Alfredo. Es scheint etwas passiert zu sein. Ich
rufe dich nachher in der Kanzlei an. Falls Gianna in der Zwischenzeit
auftaucht, schick mir eine SMS , okay?«
Er legte auf und wandte sich der jungen Polizistin zu. »Danke. Irre
ich mich, oder möchten Sie, dass ich Sie zu diesem Einsatz mitnehme, damit Sie
von Anfang an praktische Erfahrungen sammeln können? Learning by doing,
sozusagen.«
Sabine Maurachers Antwort beschränkte sich auf ein Lächeln und einen
koketten Augenaufschlag. Vincenzo mochte sie.
Vincenzo informierte Ispettore Marzoli, Dottoressa Paci aus der
Gerichtsmedizin und Anton Reiterer, den Leiter der Spurensicherung, über den
Leichenfund und bestellte sie ebenfalls zum Fundort. Minuten später saß er in
einem Einsatzwagen, Sabine Mauracher neben sich. Sie war so klein und zierlich,
dass sie im Beifahrersitz förmlich versank. Innerlich grinsend stellte Vincenzo
sich vor, sie wäre, statt vorne zu sitzen, hinten auf einem Kindersitz
angeschnallt, denn ihre Statur ließ sie weitaus jünger wirken als ihre
zweiundzwanzig Jahre. Die Sommersprossen und ihr brünetter Pagenschnitt
verstärkten diesen Eindruck noch. Sie kaute Kaugummi und wirkte angesichts
ihres ersten Einsatzes erstaunlich unaufgeregt.
»Sagen Sie mal, Sabine, sind Sie eigentlich gar nicht nervös? Ich
meine, immerhin werden Sie gleich Ihre erste Leiche sehen.«
»Ein bisschen schon. Aber ich finde das vor allem spannend. Was
meinen Sie, Commissario? Haben wir es mit Mord zu tun?« Sie blickte ihren
Vorgesetzten erwartungsvoll an.
Vincenzo erinnerte sich daran, wie er selbst sich bei seinem ersten
Einsatz gefühlt hatte. Etwa in Maurachers Alter hatte ihn der zuständige
Commissario zu einem Hof im Passeiertal mitgenommen, wo eine Frau ihren Mann
erhängt aufgefunden hatte. Vincenzo hatte innerlich gebetet, dass es kein Mord
sein möge. Beim Anblick des Erhängten, der sich, wie sich rasch herausstellte,
aufgrund finanzieller Probleme
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