Eiszeit in Bozen
zu weit, dann
konnte man nicht mehr bewusst genießen. Aber mittags zwei, drei Gläschen,
abends noch einmal, vielleicht auch vier oder fünf, das hatte nichts mit
zügellosem Trinken zu tun. Es war ihm unbegreiflich, warum es nicht jeder
Mensch so hielt.
Er wollte sich seinen Wein jedenfalls von niemandem madigmachen
lassen, auch nicht von seiner Frau. »Antonia, lass diese Seitenhiebe. Du weißt,
dass das für mich Lebensgefühl bedeutet. Was unserem Geschäft im Übrigen
keineswegs schadet. Unsere Weinkarte ist die beste und umfangreichste von ganz
Bozen. Wie viele Gäste kommen allein deshalb!« Doch seine Mutter wollte nicht
klein beigeben.
Um drei Uhr hatte Vincenzo die zahlreichen Tunnel auf dem Weg
nach Sarnthein hinter sich. Um diese Uhrzeit war noch nicht viel Verkehr, und
wenn man nicht gerade einen Monstertruck vor sich hatte, kam man schnell voran.
Er dachte über seine Eltern nach. Diese kleinen Dispute waren typisch für sie,
denn Antonia hatte ihr Temperament selten im Griff. Meistens prallte sie damit
an Pieros Gelassenheit ab, aber wehe, er ärgerte sich. Vincenzo war nichts
anderes übrig geblieben, als seine Spaghetti aufzuessen und die Streithähne
allein zu lassen. Er wusste, dass sie sich schnell beruhigen würden, spätestens
dann, wenn die ersten Gäste eintrafen.
Nach einer Bergrunde in Rekordzeit, etlichen Liegestützen und
Klimmzügen sowie einer ausgiebigen Dusche saß Vincenzo mit seinem ersten
Forst-Bier auf dem Balkon. Er wählte Giannas Nummer. Nach dem siebten Klingeln
sprang der Anrufbeantworter an. Er legte auf, versuchte es in der Kanzlei. Auch
dort hörte er lediglich eine Bandansage, die ihm mitteilte, er riefe außerhalb
der Bürozeiten an. Und ihr Handy war ausgeschaltet. Merkwürdig. Es war nicht
Giannas Art, sich so lange nicht zu melden. Normalerweise rief sie nach einem gemeinsamen
Wochenende immer an und wenn auch nur, um zu sagen, dass sie gut angekommen
war.
Bei seinem dritten Forst war es nach neun. Erneut versuchte er es in
ihrer Wohnung – vergeblich. Allmählich machte er sich ernsthafte Sorgen.
Andererseits, was sollte passiert sein? Er hatte sie in Bozen höchstpersönlich
in den Zug gesetzt, der Mailänder Bahnhof war belebt, sie nahm stets ein Taxi
nach Hause. Hätte sie einen Unfall gehabt, hätte man ihn längst benachrichtigt.
Ruhig bleiben. Er beschloss, seine Nervosität mit einem
abschließenden Muskateller zu bekämpfen, dann wagte er einen weiteren Versuch.
Wieder der Anrufbeantworter.
Diesmal hinterließ er eine Nachricht: Gianna, wo
steckst du? Ich versuche es seit Stunden. Ruf auf jeden Fall an, wenn du
zurückkommst, ich mache mir Gedanken um dich. Egal wann, ich lege den Hörer
neben das Bett. Ciao.
7
Bozen, Dienstag, 5. Oktober
Der Muskateller hatte ihm nicht geschmeckt. Seine
quälenden Sorgen war er auf diese Weise nicht losgeworden. Warum meldete sich
Gianna bloß nicht? Zigmal hatte er inzwischen angerufen, sogar mitten in der
Nacht und am frühen Morgen – nichts. Hatte er was falsch gemacht oder sie
beleidigt, ohne dass er es mitbekommen hatte? War sie eingeschnappt, ließ ihn
deswegen schmoren? Nein, das war nicht ihre Art. Sie hätte ihrem Ärger sofort
Luft gemacht.
Er hatte ein merkwürdig bedrücktes Gefühl, ganz so, als spürte er
eine unterschwellige Bedrohung. Etwas Unheilvolles lag in der Luft. Als er
schlaftrunken seine Wohnung verließ, sah er, wie sich Wolken um die Berggipfel
legten. Ein eisiger Wind blies ihm entgegen. Es war nichts weiter als der
Wetterumschwung, der seit Tagen angekündigt war, aber ihm kam es vor wie eine
an ihn persönlich adressierte Warnung. »Nimm dich in Acht,
Vincenzo! Nichts wird mehr so sein, wie es war!« Bei diesem Gedanken
spürte er ein unangenehmes Frösteln und bekam eine Gänsehaut.
Jetzt saß er in seinem Büro in Bozen, und alles kam ihm seltsam
unwirklich vor, die Questura, sein Schreibtisch, selbst seine Kollegen.
Entschlossen griff er zum Hörer und rief in der Mailänder Kanzlei an. Giannas
Eltern müssten sich doch auch Sorgen machen.
» Buongiorno , Signora, Vincenzo Bellini am
Apparat. Ist meine Freundin im Büro?«
»Bedaure, sie ist gestern und heute nicht erschienen. Ich verbinde
Sie mit Dottore dal Monte.«
Augenblicke später vernahm er die Stimme von Alfredo dal Monte,
Giannas Vater, der die Kanzlei leitete: »Hallo Vincenzo, tut mir leid, dass ich
dich nicht längst angerufen habe. Du hast dir sicherlich große Sorgen gemacht?«
»Alfredo, um Gottes willen,
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