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Eiszeit in Bozen

Eiszeit in Bozen

Titel: Eiszeit in Bozen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Rueth
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festgelegte Strecke an der Talfer entlang. Zwei Minuten
brauchte sie bis zum Fluss, dann lief sie achtundzwanzig Minuten flussaufwärts,
drehte um und war exakt eine Stunde nach dem Aufbruch wieder in ihrer Wohnung.
Die Strecke war 10,6 Kilometer lang.
    Sie sah auf ihre Stoppuhr. Heute war sie zu ihrer Überraschung ein
wenig schneller als sonst. Nach der Hälfte der Strecke an der Talfer, also nach
sechzehn Minuten Laufzeit, führte eine kleine Brücke über den Fluss. Diese
nutzte sie zur Orientierung, um ihren Zeitplan einzuhalten. Es irritierte sie,
dass sie bereits nach weniger als fünfzehn Minuten an der Brücke war. Kurz
überlegte sie, ob sie langsamer laufen sollte, entschloss sich aber mit einer
für sie ungewöhnlichen Spontaneität, das Tempo anzuziehen, über den üblichen
Wendepunkt hinauszulaufen und erst nach weiteren zwei Minuten umzukehren. Sie
spürte, wie ihre Schritte automatisch länger wurden, ihr Atem sich
beschleunigte. Sie schaute auf ihren Pulsmesser: hundertachtzig. Das war zu
viel, doch diesmal trieb sie nicht ihr Zwang zur Disziplin, sondern der
Ehrgeiz, ihre Leistungsgrenzen zu erforschen. Nur dieses eine Mal!
    Nach siebenundzwanzig Minuten und achtzehn Sekunden erreichte sie
keuchend ihren üblichen Wendepunkt. Sie war annähernd zehn Prozent schneller
als sonst. Trotz der Erschöpfung registrierte sie ein Gefühl von Stolz, sogar
Befreiung. Sie lief weiter. Die Talfer verjüngte sich ein wenig, war an beiden
Ufern von immer dichterem Gestrüpp bewachsen. Seit der Brücke war Francesca
Bartoli niemandem mehr begegnet. Erneut der Blick auf die Stoppuhr:
neunundzwanzig Minuten, elf Sekunden. Sie verlangsamte ihre Schritte, blickte
angestrengt nach vorne. Sie brauchte eine Orientierungshilfe, irgendetwas
Markantes, das sich als Markstein nutzen ließ. Keinesfalls konnte sie ohne
Fixpunkt umkehren. Wie sollte sie zukünftig ihre Zeiten vergleichen, wenn sie
diese Strecke wieder laufen wollte?
    Sie war kurz davor aufzugeben. Alles sah gleich aus: Bäume,
Sträucher, ein paar Steine, nichts Auffälliges. Dann sah sie es: Vielleicht
hundertfünfzig Meter vor ihr hatte sich etwas Helles, Längliches im Gestrüpp
verfangen. Das schien ein Baumstamm zu sein. Wiederum spontan entschied sie
sich, ab sofort mittwochs die längere Strecke zu laufen, bis zu dem Baumstamm,
so lange, bis die Strömung ihn fortgespült hatte.
    Noch fünfzig Meter. Voller Vorfreude lief sie auf ihren neuen
Wendepunkt zu.
    Francesca Bartoli ahnte nicht, dass sie heute das erste Mal in acht
Jahren nicht um acht Uhr dreißig in der Kanzlei ihres Arbeitgebers erscheinen
würde.
    ***
    Vincenzo hatte wieder schlecht geschlafen. Am Abend hatte er
stundenlang versucht, Gianna zu erreichen. Auch bei ihrer besten Freundin
probierte er es, aber sie hatte Gianna seit mehr als einer Woche weder gesehen
noch gesprochen. Schon um sechs Uhr morgens saß er am Esstisch. Das Einzige,
was er zu sich nehmen konnte, war ein Kaffee, an Essen war nicht zu denken. Bei
dieser Vorstellung wurde ihm übel. Bevor er seine Wohnung verließ, rief er bei
dal Monte zu Hause an, um den schlaftrunkenen Alfredo zu bitten, auf dem Weg in
die Kanzlei bei seiner Tochter vorbeizufahren. Alfredo, der seine eigene
Besorgnis nicht länger verdrängen konnte, versprach, in einer Stunde
aufzubrechen und Vincenzo aus Giannas Wohnung anzurufen.
    Seit sieben Uhr saß Vincenzo an seinem Schreibtisch. Außer Baroncini
und der Bereitschaft war sonst noch niemand in der Questura. Nervös starrte er
abwechselnd auf seine Uhr und das Telefon. Gerade, als er aufstehen wollte, um
sich den nächsten Espresso zu holen, durchbrach ein Klingeln die Stille in
seinem Büro. Wie Hammerschläge donnerte jedes Läuten in seinem Kopf. Er sank
auf seinen Drehstuhl, schloss die Augen, nahm ab.
    »Ciao Vincenzo, Alfredo am Apparat. Du, ich bin bei Gianna, und sie
ist tatsächlich nicht in ihrer Wohnung. Komisch, oder?« Dem ansonsten eher
abgeklärten Rechtsanwalt war eine gewisse Nervosität anzumerken.
    Auch Vincenzos Unruhe wuchs. Es passte einfach nicht zu Gianna, sich
tagelang nicht zu melden und dann zu verschwinden, ohne jemandem Bescheid zu
sagen. Er dachte angestrengt nach. Hatte er am Sonntag vielleicht doch
irgendetwas gesagt, was sie dermaßen beleidigt hatte, dass sie jetzt so
reagierte? Nein, das war nicht ihre Art.
    »Alfredo, denk bitte genau nach. Hat sie am Montag sonst noch etwas
gesagt? Ob sie in dieser Woche irgendwohin will? Oder kann es sein, dass sie zu
einem

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