Eiszeit in Bozen
anhand einer
Weichteilanalyse sein Gesicht zu rekonstruieren. Aber das dauert. Und das
Ergebnis ist ungewiss, denn durch die Schläge ins Gesicht haben die Knochen
Schaden genommen. Die Untersuchung der Kette auf Fingerabdrücke läuft noch.«
Wortlos hielt Vincenzo ihm den Brief entgegen. Marzoli begann zu
lesen. Als er fertig war, stand sein Mund weit offen, er starrte Vincenzo
entgeistert an. Anstatt etwas zu sagen, öffnete Vincenzo eine Schublade, holte
den ersten Brief des Spielführers hervor, gab ihn
Marzoli. Der Ispettore nahm den Brief wie in Zeitlupe entgegen und las.
Nachdem Marzoli auch den zweiten Brief mit offenkundigem Entsetzen
gelesen hatte, ergriff Vincenzo das Wort. »Setzen Sie sich, Ispettore. Sie
auch, Sabine, holen Sie sich einen von den Freischwingern.«
Marzoli ließ sich schwerfällig auf dem Stuhl mit der filigranen
Lehne aus verchromtem Flachstahl nieder, der unter dem Gewicht des massigen
Ispettore bedenklich quietschte. »Mein Gott, die haben tatsächlich Ihre Gianna.
Das gibt es doch nicht. Ich habe das nicht ernsthaft für möglich gehalten.«
»Aber es ist so, und unsere Talferleiche hängt mit der Entführung
zusammen. Fragt sich nur, wie.«
Inzwischen hatte Mauracher sich neben Marzoli gesetzt. Sie machte
keinen Hehl aus ihrer Neugier. »Kann ich die beiden Briefe auch sehen?«
»Sie dürfen, Sabine, nein, Sie müssen.«
***
Sarnthein
Vincenzo saß vor dem bodentiefen Panoramafenster im
Wohnzimmer und starrte in die Dunkelheit. Nachdem er seine Kollegen eingeweiht
hatte, legten sie fest, welche Schritte in dieser Situation erste Anhaltspunkte
liefern konnten: die Schreiben und das Handy auf Fingerabdrücke untersuchen
lassen, Paci bitten, die Rekonstruktion des Gesichtes der Leiche vorrangig zu
behandeln, mit Zabatino sprechen, Fasciani anrufen, Baroncini unterrichten.
Was Vincenzo Angst machte, war nicht nur, dass Giannas Schicksal in
den Händen eines Irren lag, sondern auch die Vorstellung, dass seine Kollegen
als Spielsteine in diesen Wahnsinn involviert waren.
Was bedeutete das für die Art der Aufgaben , die vor
ihm lagen? Hatten sie überhaupt eine Chance, den Mann zu fassen, bevor es
richtig losging? Selbst wenn ihnen das gelang, wie sollten sie dann Gianna
finden? Er hatte nicht einmal den kleinsten Hinweis, wo sie sein konnte. Der
Entführer hatte ihn vollständig in der Hand. Das wusste er und genoss es. Er
brauchte offenbar das Gefühl von Macht und totaler Kontrolle. Das Monster von Bozen passte hundertprozentig in dieses
Profil. Aber der pathologische Serientäter kam als Täter mit absoluter
Sicherheit nicht infrage.
Seit Gianna am Sonntagabend in den Zug gestiegen war, hatte Vincenzo
nicht mehr mit ihr gesprochen. Wann und wo war sie ihrem Entführer begegnet?
Hatte der Mann sie vielleicht gezwungen, ihren Vater anzurufen? Wie war ihm das
gelungen? Würde sich seine selbstbewusste Freundin der Gewalt beugen? Und was
hatte eine Leiche in der Talfer mit der Entführung einer Mailänderin zu tun?
Vincenzo wollte Giannas Eltern anrufen, aber er schaffte es nicht,
den Hörer von der Gabel zu nehmen. Im Büro, in Gegenwart seiner Kollegen, war
er abgelenkt, was ihm half, sich auf die Ermittlungen, die sachlichen,
kriminalistischen Fragen zu konzentrieren. Sobald er in seinem Alfa saß, um
nach Sarnthein zu fahren, vollzog sich ein Wandel in ihm. Sobald er die
Fahrertür zugezogen hatte und Stille ihn umgab, überfiel ihn grenzenlose Panik.
Ihm schossen wirre Gedanken durch den Kopf, die ihn fast wahnsinnig machten. Gianna wird nicht wiederkommen. Gianna lebt nicht mehr. Was wird
er von mir verlangen? Wird es jemals wieder einen sorgenfreien, unbelasteten
Tag für mich geben?
Kaum zu Hause angekommen, hatte er sich in den Keller geschleppt,
die neue, fast volle Kiste Forst-Bier geholt und sie neben den Sessel gestellt.
Ihm fiel nur ein Mittel ein, um das Gedankenkarussell in seinem Kopf wenigstens
für ein paar Stunden auszuschalten: Alkohol. Er musste sich betäuben, die
destruktiven Gedanken zum Verschwinden bringen. Morgen würde er vielleicht nach
Mailand zu den Dal Montes fahren. Gianna war ihre Tochter. Sie mussten
zusammenhalten.
Er zwang sich, die sechste Flasche zu öffnen. Das lauwarme Bier
schmeckte ihm nicht, und es schien überhaupt nicht zu wirken. Er saß allein in
seiner Wohnung, um ihn herum Dunkelheit und Stille. Wie tief konnte ein Mensch
fallen? Er trank in kleinen Schlucken. Beim siebten Bier brandete aus weiter
Ferne ein sanftes,
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