Eiszeit in Bozen
Wie … wie meinen Sie … meinst du das?«
»Für unser Spiel solltest du ausgeruht sein. Ich möchte nicht, dass
es vorzeitig endet, weil du zu geschwächt bist, deine Aufgaben zu schaffen. Hör
zu, was ich dir jetzt auftrage. Du wirst exakt um zehn Uhr an deinen
Briefkasten gehen. Vorher wirst du das Haus nicht verlassen. Du findest dort
den nächsten Umschlag. Er enthält deine erste Aufgabe. Sie ist harmlos. Damit
solltest du nach Punkten ausgleichen können. Und um es unmissverständlich
auszudrücken: Unterlasst jeglichen Versuch, den Briefkasten zu beobachten,
Kameras, Webcams und ähnliches Zeugs aus eurem Fundus zu installieren.
Selbstverständlich merke ich das. Du kannst dir selbst ausmalen, was das für
deinen Einsatz bedeuten würde.« Der Spielführer legte
auf.
Vincenzo stand wie angewurzelt vor seinem Wohnzimmertisch. Das fahle
Licht der Morgendämmerung tauchte den Raum in ein diffuses Licht. Während der
Regen mit bemerkenswerter Beständigkeit rauschte, nahm das Vogelgezwitscher zu.
Im Raum selbst war es totenstill. Vincenzo kam es vor, als würde er vollständig
von dieser Stimmung aufgesogen. Außerdem saß in seinem Kopf jemand mit einem
Hammer und schlug mit brachialer Gewalt gegen seine Schädeldecke. Er war zu
keinem klaren Gedanken fähig. Alles wurde überlagert von einem befremdlichen,
surrealen Gefühl.
Mit roboterhaften Bewegungen schluckte er zwei Aspirin, ging ins
Schlafzimmer und legte sich ins Bett. Er fiel in einen unruhigen, leichten
Schlaf, der von Vogelgezwitscher, Regenrauschen und Alpträumen durchsetzt war.
11
Im Gletscher, Samstag, 9. Oktober
Der Gletscher war steil und von tiefen, heimtückischen
Spalten durchzogen. Nach dem letzten Aufbäumen des Sommers war fast der ganze
Neuschnee abgeschmolzen, aber nun schneite es seit letzter Nacht
ununterbrochen. Ein markantes Frontgewitter hatte einen Sturm aus Nordwest
mitgebracht, der den Schnee, den er vom Eispanzer wegwehte, an der Nordflanke
des Gipfels meterhoch auftürmte. Als der Sturm vorüber war, wurde es fast
windstill. Wie ein dichter Vorhang hingen die dunklen Wolken auf dem Gletscher
in dreitausend Metern Höhe und wogten schwer über das Eis gegen die Felswände.
Im Schneetreiben betrug die Sichtweite kaum mehr als fünfzig Meter, es war
nicht zu erkennen, dass längst heller Tag war. Ein weißes Inferno in einer
einsamen Bergwelt aus Stein und Eis.
Die Schneefallgrenze war auf tausendsiebenhundert Meter gefallen.
Bis zum Abend sollte es in den höher gelegenen Tälern schneien. Wenn der
Wetterbericht recht behielt, stand eine eisige Woche mit viel Neuschnee bevor.
Deshalb hatten viele Hütten, die normalerweise bis weit in den Spätherbst
hinein Bergsteiger aufnahmen, ihre Pforten vor dem Wochenende geschlossen.
Damit begann eine Zeit der vollkommenen Stille, bis die ersten Skitourengeher
kamen. Niemand verirrte sich mehr in diese kalte, wilde Einsamkeit.
Niemand? In der Morgendämmerung quälte sich ein kleiner Jeep durch
den dichten Regen ein Tal hinauf. Obwohl die Scheibenwischer auf höchster Stufe
liefen, bedeckte ein durchgängiger Wasserschleier die Windschutzscheibe. Der
Geländewagen fuhr weit in das Tal hinein nach oben, bog hinter einer Hütte ab
und nahm schließlich den steilen Anstieg in den Bergwald hinein, viel weiter,
als es erlaubt war. Er passierte die Schneefallgrenze und hielt an der letzten
Stelle an, die mit einem Geländewagen noch erreichbar war. Um ihn herum lag
schwerer, nasser Schnee, der nur liegen blieb, weil es so heftig schneite.
Ein einsamer Bergsteiger stieg aus dem Jeep, begab sich zur
Heckklappe und förderte einen großen Rucksack und Skier zutage. Nachdem er die
Skier samt Stöcken am Rucksack fixiert hatte, ging er in südöstlicher Richtung
auf dem zunächst nur wenig ansteigenden schmalen Pfad zielstrebig auf den
Gletscher zu. Gleich zu Beginn kam er durch einen nachtdunklen Tunnel, in dem
er seine Stirnlampe einschalten musste. Danach ging er trotz des immer tiefer
werdenden Schnees und des mitunter ausgesetzten Pfades zügig und gleichmäßig
weiter.
Als er nach kurzer Zeit an einen kleinen See kam, blieb er stehen,
um in seine Skier zu steigen. Hier, auf über zweitausenddreihundert Metern
Höhe, lagen bereits dreißig Zentimeter Neuschnee, und es hörte nicht auf zu
schneien. Angesichts der eingeschränkten Sichtweite war es höchst gefährlich
weiterzugehen, denn der Wanderweg würde bald enden, und es folgte steiles,
wegloses Gelände. Dem Bergsteiger war es
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