Eiszeit in Bozen
laufe ich keine Minute länger als unbedingt nötig durch
diese klamme Kälte.«
Sie runzelte die Stirn. »Komisch. Ich hatte den Eindruck, als wären
Sie den ganzen Vormittag unterwegs gewesen. Ich habe Ihren Wagen auch gar nicht
im Hof gesehen. Nicht, dass Sie denken, ich würde Sie beobachten! Ich dachte
nur …«
Er sah ihr einen Augenblick nachdenklich in die Augen. »Sie müssen
sich irren, Frau Hofer. Ich war nicht einmal eine Stunde unterwegs. Den Wagen
habe ich gestern Abend im Schutz der Scheune abgestellt, weil der Hof zugeweht
war. Wissen Sie was? Jetzt trinken wir zwei Hübschen einen schönen Obstler
zusammen. Den habe ich nämlich heute auch besorgt.«
Ehe Maria Hofer, die Alkohol prinzipiell mied, protestieren konnte,
war er mit der Flasche und zwei Gläsern zurück. Er schenkte großzügig ein.
Zwei Stunden später torkelte sie über den Hof zu ihrem Haus zurück.
Die Flasche war leer, sie voll. Dabei hatte sie nicht den Eindruck, dass er ihr
weniger eingeschenkt hatte als sich selbst. Sonst schafften es nicht einmal
ihre Freundinnen, sie zu einem Glas Sekt oder einem Grappa zu überreden. Dieser
Fremde aber verführte sie mit einer Selbstverständlichkeit zum Trinken, dass
sie sich nicht widersetzen konnte. Der Mann ist gefährlich,
ganz bestimmt , kicherte sie in sich hinein.
***
A22, Verona Richtung Bozen
Sein einziges Kind in den Händen eines Kidnappers. Ihm
entrissen, von einem Moment auf den anderen.
Als Anwalt kannte er die Welt des Verbrechens, ständig hatte er mit
Straftaten und den Schicksalen der Opfer zu tun. Trotzdem hätte sich Alfredo
dal Monte niemals vorstellen können, dass es seine eigene Familie treffen
könnte. Seine Gianna, das arme Kind, sie war selbstbewusst, doch zugleich etwas
unbedarft. Mit welcher Vehemenz sie sich für ihre Klienten einsetzen konnte,
wenn sie von ihrer Unschuld überzeugt war! Sie glaubte noch immer an das Gute
im Menschen.
Nadia und er waren so unendlich glücklich gewesen, als ihnen das
Schicksal Gianna schenkte. Sie hatten dafür gesorgt, dass sie wohlbehütet
aufwuchs, sie aber gelehrt, sich zu behaupten. Ob ihr das jetzt in dieser gefährlichen
Situation half? Wo konnte sie sein? Ging es ihr halbwegs gut, bekam sie genug
zu essen, war sie unverletzt? Würde er sie jemals wieder in den Arm nehmen
können?
Alfredo, der erfolgreiche Anwalt auf der Sonnenseite des Lebens, war
verzweifelt.
Als Vincenzo angerufen und aus diesen Briefen vorgelesen hatte,
waren sie fassungslos gewesen. Was für ein menschenverachtender Zynismus! An
wen war seine Tochter, sein Ein und Alles, geraten? Und worauf sollte das
hinauslaufen? Nadia und er waren genauso ratlos wie Vincenzo und dessen
Kollegen. Dieser Wahnsinnige, der damals Vincenzo verfolgt und bedroht hatte,
konnte nicht dahinterstecken. Der hätte Rache als Motiv. Und um Geld schien es
auch nicht zu gehen. Der Mann forderte fünfzigtausend Euro, lächerlich für ein
Lösegeld. Allein in Alfredos Bankschließfach lagen zweihundertfünfzigtausend
Euro Bargeld. Aber worum ging es dann?
Sie hatten beschlossen, dass er mit dem Geld nach Bozen fahren
sollte, während Nadia zu Hause blieb, falls sich jemand bei ihnen meldete –
oder Gianna zurückkam. Alfredo hatte ein Hotelzimmer gebucht und wollte
mindestens bis Mitte der kommenden Woche in Bozen bleiben. Er musste in der
Nähe sein, jederzeit verfügbar, falls er irgendwie helfen konnte. Ganz egal,
wie wichtig seine beruflichen Termine auch sein mochten. Er hatte genügend
fähige Mitarbeiter, auf die er sich verlassen konnte.
Soeben war er an Trento vorbeigekommen. Noch eine halbe Stunde bis
Bozen. Sie hatten sich in der Questura verabredet, wo Vincenzo wahrscheinlich
seit Stunden mit seinem Kollegen und seinem Vorgesetzten zusammensaß. Beide
hatten sich sofort bereit erklärt, ihr Wochenende zu unterbrechen, um einen
Krisenstab einzurichten. Außerdem hatte Vincenzo noch von einer jungen, sehr
begabten Kollegin berichtet, die erst seit Kurzem in der Questura arbeitete.
Es war ein beruhigendes Gefühl zu wissen, dass sich solche fähigen
und engagierten Leute um Giannas Fall kümmerten. Menschen, denen es um mehr
ging als nur ihren Job. Wenn einer von ihnen Opfer eines Verbrechens wurde,
waren alle Dienstpläne vergessen. Gut, das zu wissen. Ein kleiner Trost.
Bald kam er in ein menschenleeres Bozen. Bei diesem Wetter
bummelte niemand durch die romantischen Gassen der Altstadt. Er fand problemlos
einen Parkplatz. Über die Via Marconi, in der
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