Eiszeit in Bozen
knöchelhoch das Regenwasser
stand, sodass sie eher einem Fluss als einer Straße glich, sprintete er zur
Questura. Weil er nicht an einen Schirm gedacht hatte, zog er sich sein Jackett
über den Kopf. Zielstrebig steuerte er das Büro des Vice-Questore an.
» Buongiorno , Signor dal Monte, bitte
nehmen Sie Platz. Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Was für ein unerfreulicher
Anlass für ein persönliches Kennenlernen!«
Baroncini entsprach Vincenzos Beschreibung: kultiviert, freundlich,
selbstbewusst. Selbst bei diesem informellen Treffen am Wochenende trug er
einen dunkelblauen Einreiher. Ganz Alfredos Kragenweite, dieser Mann. Er mochte
ihn auf Anhieb.
» Mille grazie , im Moment steht mir nicht
der Sinn nach Kaffee. Das ist die schwärzeste Stunde meines Lebens. Haben Sie
Neuigkeiten?«
Das war nicht der Fall. Vincenzo hatte den ganzen Vormittag
telefoniert und alle Personen auf seiner Liste erreicht bis auf Zabatino.
Keines der Gespräche hatte sie weitergebracht.
Der Tote in der Talfer war tatsächlich an einem Genickbruch
gestorben und nicht ertrunken, es fand sich kein Wasser in der Lunge. Da
aufgrund des häufigen Regens starke Strömung geherrscht hatte, war nicht
festzustellen, wo ihn sein Mörder in den Fluss geworfen hatte, es hätte jeder
Ort oberhalb der Fundstelle sein können. Außer der Kette gab es keine weiteren
Spuren. Die Rekonstruktion des Gesichtes war noch nicht abgeschlossen. Sie
wussten zwar, dass es zwischen Mord und Entführung einen Zusammenhang gab, mehr
aber nicht.
»Was mich zutiefst beunruhigt«, sagte Baroncini in die Runde, »ist
die Frage, was der Täter alles von Commissario Bellini verlangen wird. Wie
sollen wir uns verhalten, falls er illegale Forderungen stellt?«
Alfredo dal Monte kannte die einschlägigen Gesetze ebenso gut wie
der Vice-Questore, aber in diesem Moment waren sie ihm gleichgültig. »Es geht
um das Leben meiner Tochter. Wenn Sie die Briefe gelesen haben, Dottore, wissen
Sie, dass diesem Spielführer ein Menschenleben nichts
bedeutet. Diese Vorstellung macht mich verrückt. Sie müssen alles tun, was er
verlangt! Und parallel dazu müssen Sie versuchen, mein Kind zu finden!«
»Ich werde selbstverständlich am Montag als Erstes mit dem Capo
della Polizia sprechen. Aber Sie wissen selbst am besten, Dottore dal Monte,
dass wir als Behörde die Gesetze einhalten müssen. Das ist eine fatale
Situation.«
Eine Stunde lang saßen sie zusammen und debattierten, und mit jeder
Minute wurde ihnen die Ausweglosigkeit ihrer Situation deutlicher bewusst.
Genau darauf hatte es Giannas Entführer angelegt, das hatten sie inzwischen
alle begriffen.
Resigniert verabschiedete sich schließlich Vincenzo von Alfredo, der
ihm das Geld in einem neutralen Umschlag überreichte. »Nimm, Vincenzo. Das Geld
ist mir egal. Wichtig ist nur, dass du alle Hebel in Bewegung setzt, um Gianna
zu finden. Sie braucht dich jetzt! Egal, was das Schwein von dir verlangt: Tu
es! Wenn du Hilfe brauchst: Du weißt, wo du mich findest.«
Während Alfredo mit hängenden Schultern zu seinem Wagen schlich,
ohne sich um den immer noch strömenden Regen zu kümmern, machte sich Vincenzo
an den letzten Punkt seiner Liste: Eusebio Zabatino, der in der Via Resia
wohnte. Egal, wie krank er war, Vincenzo würde ihn aus dem Bett klingeln oder
notfalls die Tür eintreten. Er brauchte die Bestätigung des grippekranken
Psychiaters, um das Monster als Verdächtigen
auszuschließen.
Zabatino wohnte in einem schäbigen Mehrfamilienhaus. Nachdem der
Türöffner auch nach dem fünften Klingeln stumm blieb, versuchte es Vincenzo bei
den Nachbarn.
Eine knochige Dame um die siebzig öffnete. Sie hieß Anneliese
Kössler, lebte offenbar allein und wirkte verhärmt und einsam. Ihr schäbiger
Rock hatte ein Karomuster, das vor langer Zeit modern gewesen sein mochte. Dazu
trug sie eine hochgeschlossene und ebenso altmodische Bluse.
»Wer sind Sie? Zu wem wollen Sie?«, fragte sie in brüskem Tonfall.
Doch als Vincenzo ihr seine Dienstmarke zeigte und sie nach Zabatino fragte,
wurde sie freundlicher. »Oh, Polizei! Das wundert mich nicht. Dieser Zabatino
ist ein komischer Kauz, unfreundlich, grüßt nicht im Treppenhaus. Ich habe mir
immer gedacht, dass mit dem was nicht stimmt.« Sie näherte ihren Mund Vincenzos
Gesicht, nickte wissend und flüsterte: »Aber Sie werden ihn nicht antreffen.«
Vincenzo kannte solche Menschen wie Frau Kössler. Sie warteten
tagein, tagaus auf eine Möglichkeit, sich mitzuteilen.
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