Eiszeit in Bozen
habe
heute noch einiges zu erledigen. Für unser Spiel natürlich, mein geschätztes
Vorbild.
Viel Glück!
Dein Freund und Spielpartner
Ein Alptraum. Düster, erbarmungslos, unwirklich. So etwas
geschah im Film, aber doch nicht in der Realität! Dieser Spielführer hatte Gianna in seiner Gewalt und erpresste ihn damit. Keineswegs aus profanen,
nachvollziehbaren Gründen wie Geldgier, sondern um … warum eigentlich? Was
sollte das Ganze?
In seiner kurzen Laufbahn als Commissario in Bozen hatte er sich nur
einen wirklichen Feind geschaffen, genau einen. Einen Mann, bei dem man sich
solch einen psychopathischen Wahnsinn vorstellen konnte. Vincenzo erinnerte
sich mit einem Gruseln an die letzten Worte des Täters, als er damals das
Verhör beendete: »Wissen Sie was? Ich werde wiederkommen.
Wir beide sind noch nicht fertig.«
Aber dieser irre Serienmörder saß in einer hermetisch abgeriegelten
Zelle, Vincenzo hatte sich selbst davon überzeugt. Wäre er auch diesmal der
Täter, dann wüsste Vincenzo zumindest, womit er es zu tun hatte. Er würde
Gianna nichts antun, er bräuchte sie als Dame in
seinem makabren Spiel. Sie selbst wäre ihm gleichgültig, tatsächlich nur ein
anonymer, unbedeutender Einsatz in seiner grandiosen Inszenierung. Er,
Vincenzo, wäre das Ziel, der gegnerische König.
Das würde bedeuten, er hätte eine kleine Chance, Gianna zu finden,
denn inzwischen konnte er sich halbwegs in die kranken Gedanken des Mannes
hineinversetzen. Lange genug hatte er ihn gejagt. Angst haben musste er nur vor
dem Spiel , in das der selbst ernannte Spielführer ihn hineinzog. Mit welchen Forderungen hatte er
noch zu rechnen? Fünfzigtausend Euro waren kein Pappenstiel, wenngleich
lächerlich als Lösegeld für die Tochter eines renommierten Anwalts. Was kam
danach?
Steckte Michael Oberrautner dahinter, der einschlägig bekannte
Kriminelle, oder hatte Vincenzo es mit einem anderen außer Kontrolle geratenen
Irren zu tun, der sich an der Polizei oder der Justiz als Institution rächen
wollte? Dann schwebte Gianna in höchster Gefahr. Sie wäre genau wie ihr schöner Kommissar , wie sie ihn oft liebevoll nannte, ein
Zufallsopfer.
Nicht zum ersten Mal schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, dass
Gianna schon längst tot sein konnte. Tot. Unweigerlich sah er die grausam
entstellte Talferleiche vor sich. Er versuchte mit aller Macht, diese
vernichtenden Gedanken aus seinem Hirn zu verbannen – vergeblich. Während er
auf das Papier in seiner Hand starrte, fühlte er erneut lähmende Ohnmacht in
sich aufsteigen, eine bedrohliche, vollständige Gedankenleere.
Er zwang sich unter größter Anstrengung, ins Bad zu gehen, zwei
weitere Aspirin zu schlucken und Kaffee aufzusetzen. Mit einer ganzen Kanne in
Ristrettostärke und einer Tafel Schokolade setzte er sich an den Esstisch. Er
musste wach werden, frei im Kopf. Es gab viel zu tun. Aber was? Womit sollte er
beginnen?
Er leerte die halbe Kanne und lauschte dabei dem Rauschen des
Regens. Allmählich spürte er, wie sein Kopf klarer wurde, die Gedanken zu
fließen begannen. Er nahm sich ein Blatt Papier und einen Stift. Jetzt waren
seine kriminalistischen Fähigkeiten gefragt, wie bei jedem anderen Fall auch.
Er machte drei Spalten. Links: Was ist zu tun? In
der Mitte: Dringlichkeit, rechts: Reihenfolge. Nach einer halben Stunde hatte er etliche Schritte notiert,
an oberster Stelle eine Mahnung an sich selbst: Keine
alkoholische Betäubung, tägliche Sporteinheiten! Dringlichkeit: hoch .
Er wusste nicht, wo Gianna war, wie es ihr ging. Aber ihr Schicksal
lag nicht allein in den Händen ihres Entführers, sondern genauso in seinen. Er
musste das widerliche Spiel mitspielen und dabei gleichzeitig alle Hebel in
Bewegung setzen, um Gianna zu finden. Solange das Spiel nicht zu Ende war, wie
auch immer dieses Ende aussehen mochte, war es noch nicht verloren. Er war in
zwei Rollen gefragt, als Polizist und als Giannas Freund.
Noch einmal las er seine Notizen durch: Dal Monte
anrufen, in alles einweihen, um das Geld bitten; Baroncini und Marzoli anrufen,
privat, am Wochenende; zu Zabatino fahren; wer ist die Talferleiche (Paci
anrufen!)? Zusammenhang? Mit Elisabeth Oberrautner sprechen, Eltern anrufen;
Hans anrufen, bitten, mir bis Sonntag Gesellschaft zu leisten.
Das Wissen, dass es konkrete Dinge gab, die er tun konnte, hob
allmählich seine Stimmung. Nicht mehr untätig herumsitzen, der Willkür eines
Psychopathen ausgeliefert, sondern agieren. Angriff statt
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