Eiszeit in Bozen
Machenschaften
verwickelt sein sollte, geschweige denn in einen Mord. Für sie stand fest, dass
Michael, wenn es um ein Verbrechen ging, das Opfer sein musste.
Viel zu aufgelöst, um Vincenzo etwas zu trinken anzubieten, saß sie
vornübergebeugt auf einem Sessel, ihre Hände waren ständig in Bewegung. Sie
rieb die Finger aneinander, wippte mit dem Oberkörper, offenbar stand sie unter
Hochspannung.
»Frau Oberrautner, die Fahndung nach Ihrem Mann verläuft bislang
ohne Erfolg, obwohl wir sie inzwischen auf die Nachbarprovinzen ausgedehnt
haben. Wäre Ihr Mann Opfer eines Verbrechens geworden, wüssten wir es wohl längst.
Was macht Sie so sicher, dass er nicht wieder eine, wie Sie sagten, verrückte Idee hatte, mit dem Unterschied, dass sie diesmal
tatsächlich verrückt war?«
Sie verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. »Hören Sie auf, so
einen Blödsinn zu erzählen! Glauben Sie, Sie kennen Michael besser als ich?
Wissen Sie, seit wie vielen Jahren wir schon zusammen sind? Ja, Michael hat
Mist gebaut. Es lief überhaupt nicht mit seinen Büchern. Mein Gehalt ist nicht
schlecht, reicht jedoch nicht für den Lebensstil, den Michael sich für uns, für
mich vorstellt. Deshalb ist er auf die schiefe Bahn geraten. Aber das ist lange
her, und das wissen Sie genau. Alles, was er seitdem ausprobiert hat, war zwar
erfolglos, aber legal. Ich sage es Ihnen zum wiederholten Mal: Michael würde
niemanden entführen, geschweige denn ermorden. Er ist sanft wie ein Lamm. Warum
wollen Sie das denn nicht begreifen?«
Vincenzo hatte Verständnis für die arme Frau und fühlte sich durch
ihre Aggressivität weder beleidigt noch angegriffen. Dennoch brauchte er
Informationen von ihr. »Ich glaube Ihnen, Frau Oberrautner. Aber wir können
diese Möglichkeit nicht außen vor lassen. Außerdem ist eine erweiterte Fahndung
auch in Ihrem Interesse. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir Ihren Mann finden,
ist höher. Ich möchte Ihnen aber unabhängig davon ein paar Fragen stellen.
Fühlen Sie sich dazu in der Lage?«
Sie atmete einmal tief durch, ehe sie antwortete. »Hören Sie, ich
will meinen Mann zurück, folglich beantworte ich alle Ihre Fragen. Was wollen
Sie wissen?« Bei ihrem letzten Satz betonte sie jedes Wort einzeln.
»Zwei Dinge interessieren mich. Ihr Mann ist unter anderem wegen
diverser Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz vorbestraft. Er hat früher
harte Drogen genommen, war unter anderem deshalb in psychiatrischer Behandlung.
Wissen Sie, ob er in letzter Zeit Drogen genommen hat?«
Elisabeth Oberrautners Augen verengten sich zu Schlitzen. »Es ist
unglaublich, was mit diesem Land passiert. Ich komme zu Ihnen, um eine
Vermisstenanzeige aufzugeben, und was machen Sie? Sie stempeln Michael zu einem
Verbrecher und wühlen in seiner Vorgeschichte. Wenn Sie das wenigstens
gründlich getan hätten, wüssten Sie, dass Michael seit Jahren nicht mehr
auffällig geworden ist. Folglich hat er seitdem keine Drogen mehr genommen.
Capito?«
Unbeirrt stellte Vincenzo seine zweite Frage. »Ihr Mann wirkt auf
dem Foto, das Sie mir letzte Woche überlassen haben, sehr sportlich. Täuscht
dieser Eindruck?«
»Keineswegs, Michael joggt mindestens dreimal pro Woche. Außerdem
hat er sich im Keller ein kleines Fitnessstudio eingerichtet. Er trainiert fast
täglich. Früher hat er eine Weile Karate gemacht, bis zum braunen Gürtel, wenn
ich mich recht erinnere. Oder war es Judo? Keine Ahnung, ich kenne mich damit
nicht aus. Er war jedenfalls schon immer ein leidenschaftlicher Sportler. Aber
warum stellen Sie mir diese Fragen? Was hat das mit den Verbrechen zu tun?«
Kampfsport, das war ein interessanter Aspekt. »Das darf ich nicht
genau sagen, laufende Ermittlungen, Sie verstehen. Wie sieht es mit den Bergen
aus? Kann er Ski fahren, geht er bergsteigen, klettern?«
»Ich weiß wirklich nicht, was Sie mit dieser Fragenflut bezwecken,
Commissario Bellini. Glauben Sie, er ist in die Berge geflüchtet? Oder wollen
Sie ihm schon wieder etwas unterstellen?«
»Nein, Frau Oberrautner. Das ist im Moment reine Routine. Bitte
beantworten Sie meine Frage.«
Michael Oberrautner war gebürtiger Südtiroler, fuhr seit frühester
Kindheit Ski und war ein geübter Bergsteiger. Ob er über Gletschererfahrung
verfügte, konnte Frau Oberrautner nicht sagen, weil sie sich nie für die Berge
hatte erwärmen können. Immerhin passte ihr Mann in das Profil des Entführers.
Es war verrückt. Das alles kam Vincenzo auf beunruhigende
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