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Eiszeit in Bozen

Eiszeit in Bozen

Titel: Eiszeit in Bozen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Rueth
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Traurigkeit lange zugewinkt, weil ihnen der Abschied nach jedem
gemeinsamen Wochenende immer schwerer fiel. Als der Zug den Bahnhof verlassen
hatte, war sie in ihr Abteil gegangen. Kurz vor Trento öffnete ein Mann die
Abteiltür und fragte, ob noch ein Platz frei sei. Sie war in ihre »Vogue«
vertieft, hatte gar nicht aufgeschaut, sondern nur kurz genickt. Das Nächste,
woran sie sich erinnerte, war, dass sie in einem Geländewagen saß, irgendwo im
Gebirge, wo ihr jemand, der eine Sturmmaske aufhatte, ein Handy entgegenhielt.
»Würden Sie mir einen Gefallen tun, verehrte Gianna? Bitte rufen Sie in Ihrer
Kanzlei an. Teilen Sie Ihrem Vater mit, dass Sie Magenprobleme haben, dass es
Ihnen sehr schlecht geht und Sie ein paar Tage zu Hause bleiben wollen. Ihr
Vater soll bitte Ihrem Freund Bescheid sagen. Würden Sie das für mich tun?
Bitte versuchen Sie keine Tricks. Das würde das Verhältnis zwischen uns arg
belasten.«
    Sie verstand überhaupt nichts, war noch betäubt, paralysiert. Wie
ferngesteuert rief sie an und sagte, was ihr der Typ, der sich so auffallend
höflich benahm, vorgegeben hatte. Danach hatte er ihr ein Tuch ins Gesicht
gedrückt, so schnell und zugleich sanft, dass sie es kaum spürte. Irgendwann
war sie erneut aufgewacht und hatte sich in diesem Horror wiedergefunden. Sie
hatte laut geschrien, war verzweifelt umhergelaufen, auf der Suche nach einem
Ausgang.
    Einen Ausgang woraus? Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand.
Mit Schnee und Eis war sie gut vertraut, sie fuhr seit ihrer Kindheit Ski,
scheute sich auch nicht vor schwarzen Pisten. Etwas Derartiges aber hatte sie
nie zuvor gesehen. Überall war Eis, unter ihr, über ihr, auf allen Seiten.
Außerdem gab es Reste merkwürdiger Anlagen aus Holz und verrostetem Eisen. Es
sah aus, als hätte hier vor langer Zeit jemand gelebt. Aber hier konnte man
nicht leben.
    Gianna kam sich vor wie in einer bizarren Parallelwelt. Sie schrie
in diese Welt hinein, aber ihre Schreie blieben ungehört, schallten unheimlich
von den Eiswänden zurück. Jeder Versuch, dem Grauen zu entkommen, schlug fehl.
Nach einer Weile war sie weinend auf dem Eis zusammengebrochen.
    Dann begann sie die Kälte zu spüren, schnell erfasste sie ihren
ganzen Körper. Sie zitterte, ihre Hände und Füße fühlten sich taub an. Gianna
war aufgesprungen, hatte an sich hinuntergesehen. Sie trug dasselbe wie am
Sonntag, als sie in den Zug gestiegen war. Bloß ein Schal war ihr um den Hals,
ein Mantel um die Schulter gelegt. Von neuer Panik ergriffen, war sie in das
andere Zelt gestürmt. Dort hatte sie alles gefunden, was man brauchte, um in
einer solchen Eishöhle zu überleben. Nachdem sie sich gegen die Kälte geschützt
hatte, begriff sie allmählich. Sie war entführt worden, und man hatte sie in
oder unter einem Gletscher eingesperrt. Sie konnte nicht entkommen.
    Quälend langsam war die Zeit verstrichen, bald hatte sie jegliches
Gefühl dafür verloren. Irgendwann übermannte sie eine bleierne Müdigkeit. Sie
hatte sich in den warmen Schlafsack im Zelt gelegt und war eingeschlafen.
    Es war ein Geräusch, das sie schließlich weckte. Sie hatte nicht
tief geschlafen, war instinktiv wachsam, misstrauisch geblieben. Jetzt
schreckte sie auf und saß, von eisiger Panik erfasst, senkrecht in ihrem
Schlafsack. Ihre Sinne waren in Alarmbereitschaft, sie lauschte mit höchster
Konzentration. Der hallende Klang, der sich dem Zelt näherte, entpuppte sich
bald als Schritte im Eis. Sie schienen aus einem der Gänge zu kommen.
    Instinktiv war sie aufgesprungen, aus dem Schlafzelt gerannt, um
sich hinter dem Vorratszelt zu verstecken. Ein nutzloser Versuch. Augenblicke
später stand er vor ihr, ein großer Mann mit einer Sturmmaske, derselbe wie in
dem Jeep. Gianna starrte ihn an, vergaß für einen Moment ihre Angst. Voll Zorn
schrie sie in sein maskiertes Gesicht: »Wo bin ich? Wer sind Sie? Was wollen Sie
von mir?«
    Er reagierte gelassen, blieb trotz ihres Wutausbruchs beherrscht und
freundlich. »All diese Fragen sind für Sie im Moment nicht von Belang. Für Sie
gilt zunächst nur eines: Sie sind jetzt hier und müssen leider so lange
bleiben, wie es eben dauert. Es tut mir leid, aber Ihr Schicksal liegt derzeit
weder in Ihren noch in meinen Händen. Aber seien Sie beruhigt, Sie haben alles,
was Sie brauchen. Damit Ihnen nicht langweilig wird, habe ich Ihnen noch ein
paar Bücher mitgebracht. Und eine Flasche Grappa, falls es Ihnen trotz der
Ausrüstung kalt wird. Leider kann ich Ihnen

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