Eiszeit in Bozen
Büro. Auf seinem
Schreibtisch fand er eine Nachricht von Verdi: Du sollst UMGEHEND zu Baroncini kommen!
Vincenzo wusste, dass man Anordnungen des Vice-Questore im eigenen
Interesse sofort befolgen sollte, aber seine Neugier obsiegte. Mit der linken
Hand schlug er die Zeitung auf, mit der rechten nahm er einen Schluck Kaffee,
den er prustend wieder ausspuckte. Grund dafür war nicht die Qualität des
Kaffees, auch nicht die Schlagzeile, die er durchaus so erwartet hatte.
Geschmückt von der Titelzeile »Spektakuläre Flucht nach
peinlicher Panne in der Questura« stand gleich auf der ersten Seite ein
längerer Bericht über Garoffolos Flucht. In dem Bericht stand das, was Vincenzo
dem Reporter erzählt hatte, wenngleich in etwas übertriebener Form.
Was Vincenzo schockiert hatte, war das Foto über dem Bericht. Zu
sehen war keineswegs ein älteres Foto von Garoffolo, sondern der Polizeiwagen,
den Marzoli gerade fluchtartig verließ. Garoffolo saß im Fond des Wagens.
Obwohl die Qualität des Fotos amateurhaft war, konnte man erkennen, dass
Garoffolo in keiner Weise gesichert war und die Tür des Wagens offen stand.
Entsetzt starrte Vincenzo auf das Bild. Erneut das Gefühl eines
Déjà-vu.
Vincenzo rief Fasciani an. Vor lauter Aufregung vergaß er, seinen
Namen zu nennen. Stattdessen blaffte er den Reporter an: »Woher haben Sie das
Foto, Fasciani? Was soll das? Haben Sie unseren Deal vergessen?«
»Commissario, warum regen Sie sich auf? Sie wissen selbst am besten,
dass Ihr Kollege versagt hat. Erwarten Sie allen Ernstes, dass wir das der
Öffentlichkeit gegenüber verschweigen?«
Vincenzo schüttelte den Kopf. Die zwei Gesichter des Fernando
Fasciani. Einerseits kooperativ, bereit, sich an Absprachen zu halten,
andererseits der klassische Sensationsreporter.
»Signor Fasciani, darüber, dass Sie meinen Kollegen des Versagens
bezichtigen, will ich gar nicht erst mit Ihnen streiten. Was ich von solchen
Formulierungen halte, wissen Sie. Mir geht es um das Foto. Wäre es zu viel
verlangt, mir im Vertrauen zu sagen, woher Sie das haben?«
»Nein, Commissario, das ist kein Geheimnis. Das Foto war reiner
Zufall. Ein Pärchen aus Deutschland, das gerade Urlaub im Vinschgau macht,
hatte den Polizeiwagen vor sich, als er plötzlich rechts anhielt. Sie wurden
neugierig und blieben ein paar Meter dahinter stehen. Als sie gesehen haben,
dass Ihr Kollege wie von der Tarantel gestochen aus dem Wagen gehechtet ist,
haben sie geahnt, dass was schiefläuft. Sie haben mit ihrem Smartphone
draufgehalten und ein paar Schnappschüsse gemacht. Die haben sie uns
geschickt.«
»Signor Fasciani, ich bitte Sie, das ist doch eine hanebüchene
Geschichte. Das glauben Sie doch selbst nicht. Geben Sie mir die Kontaktdaten
dieser Leute.«
»Eine anonyme gmx-Adresse. Die wollten nicht in Erscheinung treten,
sie fanden nur, dass das in die Zeitung gehört. Ich hätte das normalerweise gar
nicht beachtet, aber nachdem Sie mir höchstpersönlich so ausführlich darüber
berichtet haben, war klar, dass ich das bringen muss. Wer die Leute waren, das
spielt keine Rolle.«
Vincenzo legte auf. Gewiss, manchmal passierten die merkwürdigsten
Dinge, aber hellseherische Touristen? Nach dem Foto zu urteilen, hatten sie ihr
Smartphone bereits auf den Wagen gerichtet, ehe Marzoli hinaussprang. Er wollte
gerade aufstehen, um zu Baroncini zu gehen, als das Handy des Spielführers klingelte.
Obwohl Vincenzo damit gerechnet hatte, zuckte er zusammen. Sein Puls
beschleunigte sich. »Ja?«
»Vincenzo, das war echt klasse, super, hast du toll gemacht! Du bist
ein phantastischer Gegner, so macht das Spiel Spaß!«
Jetzt wusste Vincenzo mit Sicherheit, dass das Foto nicht von
harmlosen Touristen stammte. »Haben Sie … hast du uns beobachtet und das Foto
geschossen?«
Es dauerte Sekunden, bis der Spielführer antwortete. »Vincenzo, warum machst du das? Warum bombardierst du mich mit
derartigen Unterstellungen? Warum dieses Misstrauen? Und das, nachdem dir dein
zweiter Zug vollendet gelungen ist! Ist dir bewusst, dass dieses Bild ein
dicker Sonderpunkt für dich sein könnte, viel besser als ein Foto von dem
Brandstifter? Ich wollte dir volle vier Punkte gutschreiben. Vier! Jetzt muss
ich mir überlegen, ob das angemessen ist.«
Vincenzo kam sich vor wie in einem billigen B-Movie. Wie konnte es
sein, dass er ein solches Telefonat führte? Was war das für ein Wahnsinn? Er
konzentrierte sich, besann sich auf das, was wichtig war. »Das war nicht
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