Eiszeit in Bozen
nicht den Komfort eines
Fünf-Sterne-Hotels bieten, den Sie vermutlich gewohnt sind. Ich empfehle Ihnen
übrigens dringend, jeglichen Fluchtversuch zu unterlassen. Sie hätten keine Überlebenschance.
Ihre Strategie sollte darin bestehen, mir zu vertrauen. Und nun muss ich Sie
bedauerlicherweise wieder verlassen.« Er setzte den Rucksack ab, holte
Lebensmittel, Grappa, Bücher heraus und verschwand wortlos in dem Gang, aus dem
er gekommen war.
Sie starrte einen Moment in den eisigen Tunnel, dann hatte sie eine
Idee. Das musste der Weg in die Freiheit sein, auch wenn er vielleicht nicht
direkt nach draußen führte. Sie dachte konzentriert nach. Ihr merkwürdiges
Lager hielt einiges bereit, was man in den Bergen brauchte. Viele
Ausrüstungsgegenstände kannte sie von Vincenzo.
Vincenzo! Auf einmal sah sie ihn vor sich, ihren schönen Kommissar,
und sie sehnte sich mit einer ungeheuren Intensität nach ihm. Sie sah sich mit
ihm am Auener Joch, spürte seine Leidenschaft, als wäre es erst ein paar
Stunden her. Langsam sank sie zu Boden und begann leise zu wimmern, schlug die
Arme um sich. Und dann kamen die Tränen.
Nach einem Tränenausbruch, wie sie ihn nie zuvor erlebt hatte, wurde
sie innerlich ganz ruhig. Sie zog sich alles an, was sie an warmer Kleidung
hatte, zündete eine Fackel an und ging los.
Der Gang bestand aus reinem Eis. Da war nichts anderes, nicht einmal
Felsen. Er war zunächst sehr hoch, bestimmt zehn Meter, und gut fünf Meter
breit. Das Licht der Fackel reflektierte in blauen und grünlichen Farbtönen von
den Eiswänden, es schillerte, funkelte, blitzte von allen Seiten. Eine
gespenstische Atmosphäre. Obwohl Gianna immer noch voller Angst war, ging von
diesem bizarren Szenario eine Faszination aus, der sie sich nicht entziehen
konnte. Was war in der Lage, eine solche Welt aus Eis zu erschaffen?
Stets vorsichtig um sich blickend, drang sie tiefer in den Gang vor.
Er schien einige Hundert Meter lang zu sein. In der Mitte beschrieb er eine
scharfe Linkskurve. Immer wieder rutschte sie mit ihren Straßenschuhen auf dem
glatten Untergrund aus, zweimal fiel sie auf das Eis und schlug sich ein Knie
auf. Sie spürte den Schmerz nicht.
Dann wurde der Gang mit jedem Meter niedriger und enger, bis sie in
gebückter Haltung gehen musste. Schon wollte sie den Mut verlieren, da öffnete
sich der Weg plötzlich wieder. War es das? War das der Weg nach draußen? Hatte
sie es tatsächlich geschafft?
Sie ging ein paar Schritte weiter, hielt die Fackel vor sich,
versuchte mit angestrengtem Blick, das Gelände zu erkennen. Als sie sah, wo sie
sich befand, ließ sie die Fackel sinken, fiel auf die Knie, begann von Neuem zu
weinen. Der Gang hatte sie in eine weitere, kleinere Eishalle geführt, von der
wiederum mehrere, teilweise verfallene Stollen abgingen. Jeder einzelne dieser
Gänge war eine Chance, aber er konnte auch den Tod bedeuten. Für eine
unerfahrene Bergsteigerin wie Gianna, die nicht einmal ausreichendes Schuhwerk
hatte, gab es aus diesem eisigen Labyrinth kein Entrinnen.
Der Maskierte hatte nicht gelogen. Er wusste, was er tat.
Von diesem Augenblick an hatte sie sich ihrem Schicksal ergeben.
13
Bozen, Montag, 11. Oktober
Mit der ersten Morgendämmerung war Vincenzo aufgestanden.
Er hatte einen Joghurt gegessen, einen Kaffee getrunken und war gemäß seinem
Vorsatz, ab sofort Disziplin zu wahren, losgelaufen. Den kurzen Anstieg hinauf,
Liegestütze und wieder zurück, zwölf Runden lang.
In der Nacht musste ein kurzer Schauer durchgezogen sein, die Wiese
war bedeckt von einem dünnen Gemisch aus Raureif und körnigem Schneegriesel.
Über dem Tal lag ein Nebelschleier, der wolkenlose Himmel begann, sich orange
zu verfärben. Bei seiner fünften Runde tauchte die flach stehende Morgensonne
den sich auflösenden Nebel in ein kitschig anmutendes Rot. Trotz seiner
sorgenvollen Anspannung erfüllte der Anblick Vincenzo mit neuer Tatkraft.
Er fuhr gar nicht erst in die Questura, sondern auf direktem Weg zu
Frau Oberrautner, die außerhalb von Bozen in einem kleinen Einfamilienhaus
wohnte. Sie hatte sich einige Tage freigenommen, um jederzeit verfügbar zu
sein, falls es Neuigkeiten von ihrem Mann gab. Auch wenn sie wie bei ihrem
ersten Besuch in der Questura gut gekleidet und sorgfältig gestylt war,
verrieten tiefe Ringe unter den Augen und ihre trotz Make-up fahle
Gesichtsfarbe, dass sie wohl kaum Schlaf fand. Noch immer konnte sie sich
überhaupt nicht vorstellen, dass ihr Mann in kriminelle
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