Eiszeit in Bozen
vorzubereiten. Du erhältst morgen oder übermorgen einen
Brief mit deiner vorletzten Aufgabe. Ich werde dich nicht anrufen, ich brauche
den ganzen Tag, um deine Strafe auszuführen. Denk zukünftig an meine Hinweise
zum Thema Verstärkung. Gelange ich zu der Erkenntnis, dass ihr versucht, den
Spielführer zu behindern, endet das Spiel mit dem sofortigen Verlust deines
Einsatzes! Es spielt keine Rolle, wer bei euch solche Entscheidungen trifft.
Allein das Ergebnis zählt für mich. Schöne Grüße an den Vice-Questore. Er soll
sich fragen, ob er damit leben könnte, deinen Einsatz eingefroren zu haben!«
Vincenzo starrte auf das Handy. Drei Minuten hatte das groteske
Gespräch gedauert, zu kurz für eine sichere GSM -Ortung.
Sein Gegenspieler war in jeder Beziehung professionell. Vincenzo wusste, dass
spätestens der letzte Spielzug unmöglich zu erfüllen sein würde. Die bange
Frage, ob er Gianna durch Entschlossenheit oder Nichtstun mehr gefährdete,
beantwortete sich von selbst.
***
Marmolata
Valentin sah vor sich einen traumhaften Sonnenuntergang
über den bizarren Spitzen des Rosengartens. Er hatte inzwischen den Großteil
der Hütten, Biwakschachteln und die alten Reste der Kriegsbauten in der
Marmolata-Scharte abgesucht. Nichts, keine Spur von Gianna. Ihm war unterwegs
kaum jemand begegnet. Die Hütten waren alle zu, die Bahn fuhr nicht mehr, nur
die erfahrensten Bergsteiger schafften den Weg in diese schwindelerregenden
Höhen. Gute Bedingungen, um ein alpinistisches Greenhorn zu verstecken. Er
schüttelte den Kopf. Sollte er sich geirrt haben? Waren die Hinweise auf Eis
ein Ablenkungsmanöver?
Sorgenfalten überzogen seine sonnengegerbte Stirn. So imposant das
Rot über den Gipfeln war, der milchige Wolkenschleier, der die Sonne viel
größer wirken ließ, war ein schlechtes Zeichen. Sowohl über dem Atlantik als
auch über dem Mittelmeer brauten sich gewaltige Tiefdrucksysteme zusammen, die
Südtirol regelrecht in die Zange nahmen. Das eine würde Massen an Feuchtigkeit
bringen, das andere die polare Kaltluft anzapfen. Dazu kamen heftige Stürme.
Wenn es erst einmal losging, würde es tagelang schneien, er müsste seine Suche
abbrechen. Das wäre das Ende für Gianna. Von Anfang an hatte er befürchtet,
dass ihr Entführer das einkalkulierte, dass es ihm egal war, ob sie überlebte.
Vincenzo gegenüber hätte er das niemals laut geäußert.
Ihm blieben zwei, vielleicht drei Tage, bis der Wintereinbruch kam.
Was sollte er tun? Die letzten Möglichkeiten in der Marmolata abklappern? Oder
abbrechen und ein anderes Gebiet absuchen, Ortler oder Adamello? Gletscher gab
es auch dort zur Genüge.
Allerdings würde er allein durch Abstieg, Anfahrt und neuerlichen
Anstieg mindestens einen wertvollen Tag verlieren. Für jedes mögliche Versteck
gab es dieselbe Wahrscheinlichkeit. Vielleicht hatte er bis jetzt schlichtweg
Pech gehabt? Nein, er musste weitermachen.
Valentin durchstieg den Westgrat-Klettersteig mit der Sicherheit und
Selbstverständlichkeit eines Extrembergsteigers, der als erster Mensch mit
Skiern von Mount Everest und K2 abgefahren war und dreizehn der vierzehn
Achttausender ohne künstlichen Sauerstoff bestiegen hatte. Er querte steile
Felsplatten, die sich nur mittels in sie hineingehauener Eisenstifte begehen
ließen, lief leichtfüßig den schmalen Grat entlang, an dessen beiden Seiten es
fast senkrecht in die Tiefe ging.
Vor sich sah er den gewaltigen Marmolatagletscher. Ein
beeindruckendes Naturspektakel, doch das spielte in diesem Moment keine Rolle.
Sein Ziel war die Capanna al Ghiacciaio am Nordrand des Hauptgletschers, eine
Schutzhütte, die ganz von Felsen umgeben war. Sie war eine der wenigen
verbliebenen Möglichkeiten, Gianna zu finden und sein Lager für die Nacht.
17
Questura, Freitag, 15. Oktober, 07.30 Uhr
An jenem Freitag sollte Vincenzos Fall eine überraschende
Wendung nehmen. Er hatte eine weitere schlaflose Nacht hinter sich. Gerade als
er zu Hause ein wenig zur Ruhe gekommen war, überfiel ihn plötzlich der
panische Gedanke an seine »Strafe«. Was hatte sich dieser Abschaum Teuflisches
ausgedacht? Heute würde er es erfahren.
Ohne zu frühstücken, aber mit heftigen Bauchschmerzen war Vincenzo
in die Questura gefahren. Paolo Verdi erzählte ihm, dass sowohl die
Gerichtsmedizin als auch die Spurensicherung interessante Neuigkeiten für ihn
hätten. Da seine Kollegen noch nicht da waren, ging er allein zu Dottoressa
Paci. Sie saß an ihrem Schreibtisch, trank
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