Eiszeit in Bozen
in ihn,
nein, bestimmt nicht. Es war diese unglaubliche Faszination, die von ihm
ausging. Er hatte einen undefinierbaren Blick, lauernd, musternd. Er wirkte
geschmeidig wie ein Raubtier vor dem Sprung. Er war durchtrainiert, drahtig,
kein Bodybuilder. Seine sanfte Stimme, sein Charme, dem man nicht widerstehen
konnte, standen dazu in einem aufregenden Kontrast. Zugleich strahlte er
Souveränität und Gelassenheit aus. Je länger sie ihn beobachtete, desto weniger
konnte sie sich vorstellen, dass eine solche Ausnahmeerscheinung lediglich ein
paar Reisebücher schrieb.
Um Viertel vor acht war es endlich so weit. Stadler verließ das
Haus, ging schnellen Schritts zu seinem Auto, einem schlichten VW -Golf. Der passte wirklich nicht zu ihm, er bräuchte
einen eleganten, edlen Sportwagen. Zu gerne wäre sie nach draußen gelaufen, um
ihn abzufangen, ein paar Worte mit ihm zu plaudern. Doch bei seinem letzten
Besuch hatte er ihr freundlich, aber bestimmt zu verstehen gegeben, dass er die
nächsten Tage Ruhe und Zeit benötige, um sein Projekt nicht durch den nahen Wintereinbruch
zu gefährden.
Dabei hatte sie sich extra für ihre Begegnungen mit Stadler ein
neues schickes Kleid gekauft und war zum Friseur gegangen, ganz zu schweigen
von dem sündhaft teuren Parfum, ihrem ersten seit dem Tod ihres Mannes. Stadler
hatte ihr deswegen Komplimente gemacht, auf eine Art, die ihr wohlige Schauer
über den Rücken jagte. Dann war er, noch ehe er seinen Köstenkuchen aufgegessen
hatte, aufgestanden und hatte sich mit dieser freundlichen, aber bestimmten
Abfuhr verabschiedet. Sie schämte sich ein bisschen, weil sie wusste, dass sie
zu weit ging. Aber sie konnte nicht anders, er hatte sie in seinen Bann
gezogen, aus dem es kein Entrinnen gab.
Sie beschloss, Obstler zu besorgen, am besten gleich drei Flaschen.
Den trank er offensichtlich gerne. Vielleicht konnte sie mit Hilfe von Alkohol
mehr über ihn erfahren.
Heute nahm er keinen Rucksack mit. Er trug Jeans und einen schwarzen
Pullover. Was immer er vorhatte, in die Berge wollte er nicht.
***
Forensische Psychiatrie, 08.00 Uhr
Es war grauenvoll, wie langsam die Zeit verstrich. Minute
um Minute musste er sich durch die Ödnis der Tage quälen. Ohne die kleine
Taschenuhr, ein Mitbringsel von Zabatino, die er unter dem Bett versteckt
hielt, hätte er längst jedes Zeitgefühl verloren. Sein Blick wanderte durch die
karge Zelle. Alte, abblätternde Ölfarbe an den Wänden, hässliche grüne Fliesen
im Sanitärbereich, teilweise schon gesprungen, die unbequeme Pritsche, keine
Möglichkeit, nach draußen zu sehen. Das war menschenverachtend und entwürdigend.
Er sah auf die Uhr: gleich acht. Bald würde dieser Albertazzi
auftauchen, um ihm sein ekelhaftes Frühstück in die Durchreiche zu stellen.
Klack, Frühstück rausnehmen, Geschirr vom Vorabend reinstellen, klack,
Durchreiche zu. Jeden Tag dasselbe, zweimal.
Erfreulicherweise brachte ihm sein einziger richtiger Besucher
regelmäßig Diazepam mit, damit ließ sich der Horror etwas besser ertragen. Was
tat man nicht alles für den schnöden Mammon? Er versuchte, sich einzureden,
dass dieser Aufenthalt endlich war. Bald war es vorbei, danach würde es ihm
besser gehen als je zuvor. Aber die Zeit verstrich im Zeitlupentempo. Käme
wenigstens gelegentlich dieser Zabatino, dann könnte er mit jemandem reden.
Aber der würde nirgendwo mehr hingehen, der Pechvogel. Na ja, ein paar Tage
noch …
Klack, die Durchreiche wurde geöffnet. Verdutzt sah er auf sein
Frühstück, das die Bezeichnung nicht verdiente. Eine gute halbe Stunde zu früh.
Was sollte diese Abweichung vom Tagesplan? Davon war nicht die Rede gewesen.
Andererseits, was kümmerte ihn das? Ihm konnte es egal sein. Er zählte die Tage
und Stunden. Benommen von seiner letzten Dosis stand er auf, nahm das eine
Tablett raus, stellte das andere rein. Klack, bis zum nächsten Kontakt zur
Außenwelt würden wieder Stunden vergehen.
***
Questura, 09.30 Uhr
Sie saßen in Vincenzos Büro zusammen, wo sie auf
Albertazzis Anruf warteten. Auf dem Weg zur Spurensicherung war Vincenzo
zuversichtlich, seinen Kollegen eröffnen zu können, dass Oberrautner als Täter
ausschied. Die Ergebnisse der rechtsmedizinischen Untersuchungen waren
eindeutig. Reiterers Befund aber auch.
Erwartungsvoll sahen ihn Mauracher und Marzoli an, zwischen denen
zunehmend ein Wettstreit um Vincenzos Cantuccini-Etagere entbrannte. »Unsere
Talferleiche ist zweifelsfrei Zabatino. Und ich war mir sicher,
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