Eiszeit in Bozen
Choleriker in ihm wieder zum Vorschein.
Der sonst so souveräne Baroncini saß seinem Chef kleinlaut
gegenüber. Bereits die Begrüßung war unterkühlt und für Baroncini schmerzhaft
verlaufen. Patricello hatte mit seinen riesigen, bis zu den Fingerkuppen von
dichten schwarzen Haaren überzogenen Pranken einen Griff wie ein Schraubstock.
Der eher drahtige Baroncini hatte dem nichts entgegenzusetzen.
»Was soll der Mist, Baroncini?«, blaffte der Capo seinen
Vice-Questore mit seinem markanten Basso profondo an. Das allein genügte schon,
sein Gegenüber einzuschüchtern. Dabei war der vierundfünfzigjährige Patricello
gerade mal ein Meter siebzig groß, wenn er hinter seinem riesigen, L-förmigen
Schreibtisch aus massivem Nussbaumholz saß, ragte er gerade bis auf Höhe der
Brustwarzen über die Tischplatte. Allerdings hatte er eine beeindruckend
massige Figur, und seine Augen, so pechschwarz wie die Haare, durchbohrten
seine Gesprächspartner unabhängig von seiner Stimmung permanent mit einem
stechenden Blick.
»Was ist denn bei Ihnen los, Baroncini? Seit Monaten kommen wir aus
den Schlagzeilen nicht mehr heraus. Wahnsinnige Monster, entflohene
Feuerteufel, entstellte Talferleichen. Was kommt als Nächstes? Was haben Sie
sich eigentlich bei der Verlegung dieses Brandstifters gedacht? Und zu allem
Überfluss suchen Sie sich dafür einen lahmen, übergewichtigen Ispettore aus!
Ist das eine indirekte Bitte um Strafversetzung?«
Baroncini hatte seinen Vorgesetzten noch nie so aufgebracht erlebt.
Ihm wurde klar, dass in den Geschichten, die man sich über seine
Erbarmungslosigkeit erzählte, mehr als nur ein Fünkchen Wahrheit steckte. Ihn
zu belügen wäre karrieremäßig Selbstmord gewesen. Und so weihte er Patricello,
der seinem Untergeben mit zusammengekniffenen Augen zuhörte, in sämtliche
Details des Falles ein. Er schloss mit einem Kurzbericht über Garoffolo. »Wir
haben ihn unter Kontrolle, Dottore. Er ist nicht einen Moment unbeobachtet.
Derzeit macht er keine Anstalten, wieder aktiv zu werden. Ich vermute, dass ihm
seine Verhaftung einen solchen Schock versetzt hat, dass er sich vorläufig
nicht mehr traut.«
Patricello klopfte mit allen Fingern sanft auf seinen Schreibtisch.
»Gut, Baroncini, das ist alles nachvollziehbar. In der Tat, eine Zwickmühle.
Trotzdem! Was täten Sie, wenn es nicht die Frau eines Commissario wäre?«
Baroncini wollte diese direkte Frage nicht beantworten, stattdessen
versuchte er ein Ausweichmanöver. »Zwei, höchstens drei Tage, dann wissen wir,
ob Hans Valentin erfolgreich war.«
Patricello schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. »Reden
Sie nicht um den heißen Brei herum, Baroncini, beantworten Sie gefälligst meine
Frage!«
Ausweichmanöver gründlich misslungen. Baroncini richtete sich
kerzengerade in seinem Stuhl auf, um der Dominanz seines Vorgesetzten
wenigstens körperlich etwas entgegenzusetzen. »Gut, Dottore, was könnten wir
unternehmen? Seine Zelle durchsuchen, die Psychiatrie observieren, die Fahndung
nach Oberrautner ausweiten, eine Spezialeinheit anfordern, die Carabinieri
einschalten. Das wären die naheliegenden Maßnahmen. Allerdings würden wir
trotzdem den Fokus auf die Geisel richten. Ich persönlich würde von diesen
Maßnahmen absehen, bis wir konkrete Anhaltspunkte haben, wo sich das Opfer befinden
könnte.«
Patricello schnaubte verächtlich. »Und dafür die Gesetze übertreten,
deren Schutz Ihre Aufgabe ist? Sich von einem Bekloppten erpressen lassen?
Würden Sie das wirklich in jedem anderen Fall tun?«
Baroncini hätte gerne gefragt, was der Capo an seiner Stelle täte,
aber er wollte seinen Vorgesetzten nicht provozieren. Patricello duldete keine
Gegenfragen. »Ja, ich würde es trotzdem so machen.«
Die Konsequenz, mit der sein Untergebener bei seiner Überzeugung
blieb, beeindruckte Patricello. »Na gut, das kann ich halbwegs nachvollziehen.
Hans Valentin kennt in Südtirol jeder, der Mann ist ein bergsteigerisches
Genie. Ich gebe Ihnen Zeit bis zum Wochenende. Wenn diese Gianna dal Monte bis
dahin nicht aufgetaucht ist oder Sie den Entführer nicht gefasst haben, leiten
Sie am Montag exakt die eben erwähnten Maßnahmen ein, und zwar pronto . Verstanden?«
Mit einem »Selbstverständlich!« wandte sich Baroncini zum Gehen.
Doch Patricello war noch nicht fertig mit ihm. »Einen Moment noch,
Vice-Questore!« Baroncini blieb wie angewurzelt stehen, ohne sich umzublicken.
»Wenn so etwas in Zukunft noch einmal vorkommen
Weitere Kostenlose Bücher