Eiszeit in Bozen
Falls
allerdings gerade sie den entscheidenden Hinweis liefern würde, der nicht nur
Bellinis Bauchgefühl bestätigte, sondern auch zu seiner Gianna führte …
Plötzlich vernahm sie ein Geräusch schräg hinter sich. Reifen auf
Kies. Ein Wagen rollte langsam mit Standlicht auf den Parkplatz, vorbei an
ihrem Versteck. Er fuhr um die Psychiatrie herum, parkte kaum sichtbar unter
einem Baum. Jemand stieg aus und ging schnell auf den Eingang zu. Zu dumm, dass
sie zu weit weg war, sie konnte nicht erkennen, wer es war. Die Gestalt war
dunkel gekleidet, und es war stockduster. Die tief hängenden Wolken verdeckten
den Mond.
Sie durfte ihr Versteck nicht verlassen. Kaum hatte die Gestalt den
Eingang erreicht, schwang die Tür auf, sie schlüpfte schnell hinein, die Tür
schloss sich wieder. Mauracher sprang auf, lief in geduckter Haltung rasch auf
den Eingang zu. Am Treppenabsatz blieb sie stehen, überlegte, ob sie es wagen sollte.
Dann eilte sie kurzentschlossen die Stufen hinauf, um ins Innere des Gebäudes
zu schauen, das nur spärlich ausgeleuchtet war. Sie konnte niemanden erkennen.
Was sollte sie tun? Bellini oder Marzoli anrufen? Mann, das würde bestimmt
Ärger geben. Sie entschied sich, weiter in ihrem Versteck auszuharren.
Spätestens dann, wenn Albertazzi das Frühstück gebracht hatte, würde der Typ
wieder herauskommen.
Sie würde ihm folgen, und mit etwas Glück führte er sie geradewegs
zu Gianna. Spätestens, wenn es in Richtung Berge ging, musste sie ihre Kollegen
informieren. Sie ging zu dem Wagen, notierte sich den Fahrzeugtyp – ein BMW X 3 – und das Kennzeichen.
***
Sarnthein, 21.45 Uhr
Nach Oberrautners Anruf hatte Vincenzo das Gefühl
durchzudrehen. Diese Machtlosigkeit und die Vorstellung, dass dieser kranke
Mensch sich an einem Kind vergehen könnte, machten ihn rasend. Was hatte er
Elisa angetan, wohin hatte er sie verschleppt? Lange saß er grübelnd und noch
immer nackt auf seinem Sofa. Endlich meldete sich das Handy. Reflexartig griff
Vincenzo danach.
»Ich habe nachgedacht, Vincenzo.« Stille.
Vincenzo fuhr ihn an: »Was hast du mit Elisa gemacht?«
»Ich habe ernsthaft nachgedacht, warum du dich so abweisend
verhältst. Gerade schon wieder! Und das, obwohl du weißt, dass du damit deinen
Einsatz gefährdest. Du handelst unlogisch. Na ja, ein bisschen kann ich dich
verstehen. Du misstraust mir, fürchtest, dass du deinen Einsatz ohnehin nicht
zurückbekommst. Habe ich recht? Das macht mich traurig, aber ich kann mich gut
in dich hineinversetzen. Soll ich dir was sagen? Ich bin bereit, dir zu
verzeihen. Ich verzichte auf eine weitere Strafe. Was sagst du dazu?«
Vincenzo malte sich aus, was er mit Oberrautner anstellen würde,
wenn er ihn zu fassen bekam. Eines war klar, er würde sich Zeit lassen und es
genießen. »Was ist mit Elisa? Sie ist ein Kind!«
Ein vernehmliches Stöhnen. »Ich bin betrübt, dass du mir allen
Ernstes zutraust, ich würde mich an einem unschuldigen, wehrlosen Kind
vergehen. Ich habe Elisa den schönsten Tag ihres Lebens geschenkt. Oder glaubst
du, sie findet die blöden Wochenendspaziergänge mit ihren Eltern prickelnd?
Inzwischen ist sie längst wieder in den Armen ihres dicken Vaters und erzählt
ihm, was für ein netter Mensch ich bin. Du solltest allmählich begreifen, dass
du den Anweisungen des Spielführers bedingungslos zu folgen hast. Tust du es
nicht, folgen Strafen, auf die du im Traum nicht kommen würdest.« Oberrautners
Stimme war wieder säuselnd, freundlich, mitleidig. Inzwischen fand Vincenzo
diesen warmen, weichen Tonfall nur noch abstoßend. »Nun nähert sich das Spiel
dem Ende. Morgen früh gehst du an deinen Briefkasten. Darin findest du die
Anweisungen für den vorletzten Spielzug. Ich hätte dich deine Fähigkeiten zu
gerne länger unter Beweis stellen lassen, doch wie gesagt: Die Zeit drängt.
Dein vorletzter Zug wird vergleichsweise trivial sein. Werte ihn als Ruhe vor
dem Sturm. Schön doppeldeutig, oder? Schlaf gut, mein teurer Freund. Ich bin
immer in deiner Nähe.«
Vincenzo fiel eine zentnerschwere Last vom Herzen. Wäre Elisa etwas
geschehen, wäre er seines Lebens nicht mehr froh geworden. Warum hatte ihm
Marzoli bloß nicht Bescheid gesagt? Was hatte er sich nur dabei gedacht? Er
rief ihn an.
Als er erfuhr, dass Marzoli ihn endlich einmal in Ruhe schlafen
lassen wollte, beruhigte sich Vincenzo wieder. Hauptsache, Elisa war sicher und
wohlbehalten zu Hause. Den ultimativen Beweis hatte sie gleich mitgebracht.
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