Eiszeit in Bozen
schaute er auf die Temperaturfunktion seines
Höhenmessers. Acht Grad plus, noch mal zwei mehr als am Abend. Gut. Seine Erfahrung
sagte ihm, dass der Wind gegen Mittag nachlassen und sogar die Sonne ein
letztes Mal durchkommen würde. Dann folgte eine merkwürdig ruhige Nacht,
ungewöhnlich mild, fast wie im Hochsommer. Morgen würde die warme Strömung im
Laufe des Tages zusammenbrechen und den Weg freimachen für ein
Jahrhundertunwetter mit Schnee- und Sturmchaos über Südtirol. Egal, wo Gianna
sich befand – wenn sie in den Bergen war, mussten sie Vincenzos Freundin
finden, bevor es losging, sonst war sie verloren.
Er ging in die Hütte, goss sich einen weiteren Kaffee ein, aß zwei
Bananen, dann brach er auf. Es war kurz vor halb fünf.
***
Sarnthein
Der Schnee kam vom Himmel auf uns und
unsere Feinde und bedeckte alles mit seinem Hermelinmantel. Mit ihrer
imponierenden Majestät warnte uns die Natur und führte uns unsere Winzigkeit
und Ohnmacht vor Augen.
So realitätsnah wie eine Dokumentation lief der Traum in seinem
Gehirn ab. Zu Beginn des Traums erschien ein Mann, der sich als Ludwig
vorstellte. Er sei ein Augenzeuge und wolle Vincenzo alles erzählen, was er
erlebt habe.
Ludwig erläuterte ihm, dass die Soldaten den Naturgewalten seit dem
Ausbruch des Gebirgskrieges offen ausgesetzt waren. Es gab nicht mehr nur einen
Feind, sondern zwei. Einzig der Gedanke, dass es den Italienern nicht besser
erging, tröstete sie ein wenig. Ludwig hatte sich niemals vorstellen können,
dass die Front in einer derart lebensfeindlichen Umgebung verlaufen würde. Der
Tod war ihr ständiger Begleiter, aber er hätte nicht sagen können, ob mehr
Kameraden durch feindlichen Beschuss ums Leben kamen oder durch Kälte, Stürme,
Schnee, Lawinen und Gletscherspalten. Sollte er jemals wieder nach Hause
kommen, würde er nicht mehr derselbe sein.
Der Verletzte – einer der besten Schützen – fiel
nieder und spornte trotzdem seine Kameraden an weiterzuschießen. Dann wurde er
zum nächsten Sanitätsposten geschleppt. Das Erste, was man ihm verabreichte,
war eine Dosis Morphium, ehe man sich um seine schwere Verletzung kümmerte.
Doch die Lungen des Mannes waren derart mit Luft gefüllt, dass die kleine
Membran, die seine Lunge von der Verletzung trennte, zerriss. Dreimal
nacheinander spritzte kraftvoll Blut aus der Wunde, dann war es vorüber.
Jeden Tag robbten sie in ihrer weißen Tarnkleidung über den
Gletscher. Alle paar Minuten huschte von der gegnerischen Seite her
Scheinwerferlicht über das Eis. Wehe dem, der dann nicht schnell genug war,
nicht sofort mucksmäuschenstill liegen blieb. Der war verloren, starb im
feindlichen Kugelhagel.
Es war fürchterlich, so ausgeliefert zu sein. Manchmal mussten er
und seine Kameraden stundenlang regungslos ausharren, dann kroch die frostige
Kälte gnadenlos durch die Uniform und die Tarnkleidung, die Finger wurden taub,
ließen sich kaum mehr bewegen. Der Gletscher war groß und ausgesetzt, immerzu
wehte ein eisiger Wind und machte die Kälte noch unerträglicher. Wehe, wenn es
dann noch schneite oder regnete.
Die Verluste waren immens. Als die Schneeschmelze kam, wurde es noch
schlimmer. Ihre Unterstände im Eis flossen ihnen im wahrsten Sinne des Wortes
davon, und sie standen plötzlich ohne jegliche Deckung da. Erst gestern war
eine Granate direkt neben Ludwig eingeschlagen. Sie hatte Franz zerfetzt, den
Einzigen, mit dem ihn in dieser Hölle eine Art Freundschaft verband.
Sicherlich, Hauptmann Samen, der Zugführer dieser Kaiserjäger, tat alles, um
seine Männer zu schützen. Aber diese Schlacht konnten sie nicht gewinnen, das
wussten sie alle. Wenigstens erlitten auch die Italiener ordentliche Verluste.
Meine Jäger werden selbstverständlich auf diesem
Posten bis zum letzten Mann ausharren, doch mache ich darauf aufmerksam, dass
ich, wenn ich, so wie heute, durch einen einzigen Volltreffer sieben meiner
besten Leute verliere, in den nächsten Tagen, wenn die Schneeschmelze
fortschreitet, meine ganze Mannschaft verloren haben werde!
Seit zwei Jahren war Ludwig Soldat in diesem bizarren Krieg, in dem
niemand wusste, wer der schlimmere Gegner war: die Italiener oder die
Naturgewalten. Er konnte die Toten, die er gesehen hatte, gar nicht mehr
zählen. Zu Hause saß Wilhelmine mit den beiden Kindern, hoffte jeden Tag aufs
Neue, dass er zurückkam. Aber aus dieser Hölle aus Eis gab es kein Entrinnen.
Das hatte er inzwischen begriffen. Es war nur noch die Frage, ob es die
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