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Eiszeit in Bozen

Eiszeit in Bozen

Titel: Eiszeit in Bozen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Rueth
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Gewalt
der Natur oder eine italienische Kugel sein würde, die seinen Einsatz für immer
beendete.
    Er stand in der Scharte, blickte wehmütig hinunter ins Val Contrin.
Den ganzen Vormittag hatte es geregnet, jetzt klarte es auf. Sogar die Sonne
kam durch und vertrieb die klamme Kälte aus ihren geschwächten Körpern. Dafür
wurden sie zu einer wunderbaren Zielscheibe für den Feind.
    Sie hatten den natürlichen Schutz des Nebels genutzt, um gegnerische
Stellungen auszuspähen. Jede Sekunde voller Angst, die Sinne in höchster
Konzentration. Jederzeit konnten Schüsse fallen oder das signifikante,
ekelhafte Pfeifen der Granaten hörbar werden, bei dem man wusste, dass es
gleich knallen würde, aber nicht, wo. Sie waren durch die riesigen Séracs des
Gletschers marschiert, eine surreale, zugleich faszinierende Welt. Man ging
zwischen senkrechten Wänden hindurch, die aus purem Eis bestanden. Umwabert von
weißem Nebel wie von einem unüberwindbaren Schutzschirm, bekam man inmitten
dieser Eiswelten das Gefühl, es könnte einem nichts passieren. In diesen
Stimmungen mochte Ludwig kaum glauben, dass er sich in einem brutalen,
hoffnungslosen Krieg befand.
    Doch nun, während die Sonne ihm wohltuend ins Gesicht schien, dachte
Ludwig voller Grauen an jene Nacht des 20. September zurück, in der so
viele seiner Kameraden ihr Leben verloren hatten. Er selbst war dem Tod nur
knapp entgangen. Es war der Gedanke an Wilhelmine und seine Kinder gewesen, der
ihm trotz aller Hoffnungslosigkeit genügend Kraft zum Überleben gegeben hatte.
    Eine so schlimme Nacht habe ich mein Leben nie
durchgemacht. Eisige Kälte, Schnee und ein Wind, dass ich mich an ein im Fels
verankertes Eisen anklammern musste, sonst hätte es mich wie Papier
davongeweht. Der Sturm kam von allen Seiten und schoss mir den Schnee wie mit
Kanonen ins Gesicht. Es war so schlimm, dass ich mir nur noch den Tod wünschte.
Doch nun, da ich überlebt habe, möchte ich zu meinen Liebsten zurückkehren, um
ihnen von all meinen Leiden zu berichten.
    Leo gesellte sich zu ihm. Er hatte den Unterstand den ganzen Tag
nicht verlassen. Die Strapazen und die zermürbende Angst hatten ihn gezeichnet.
    »Was glaubst du, Leo, werden wir dieser Hölle jemals entkommen?«
    »Keine Ahnung, Ludwig, mit unseren bescheidenen Mitteln jedenfalls
nicht. Was wir bräuchten, wäre ein natürlicher Schutz, etwas, womit die
Italiener nicht rechnen. Aber was sollte das …«
    Ludwig schnaubte verächtlich. »Womit die Italiener nicht rechnen!
Die sitzen in ihren Felsstellungen und warten einfach ab. Es gibt nichts, wo
wir uns verstecken könnten, keinen Wald, nicht einmal Latschengestrüpp, nur
dieser Fels und das widerliche Eis. Und oben auf dem Gletscher sind wir für die
wie auf dem Präsentierteller. Jede Bewegung kriegen die italienischen Posten
mit. Man könnte fast sagen, diejenigen, die in eine anständig tiefe Spalte
gefallen sind, hatten richtig Glück. Die hat wenigstens der Gegner nicht
erwischt.«
    Leo starrte Ludwig an. »Ludwig, du bist ein Genie, weißt du das
eigentlich? Ein richtiges Genie.«
    Ludwig hatte keine Ahnung, was sein Kamerad meinte. Was hatte er
denn Geniales gesagt?
    Leo hingegen schaute mit zusammengekniffenen Augen auf den Gletscher
hinab und stellte fest: »Das könnte allen Ernstes die Lösung sein. Ludwig,
vielleicht ist das der Wendepunkt in dieser gottverdammten Schlacht! Ich muss
sofort zum Hauptmann.«
    Als die Not am größten war, kam uns der Gedanke,
das Gletschereis wie einen weichen Fels zu behandeln und alle Stellungen durch
Tunnels tief unter der Oberfläche zu verbinden. Es ging für uns um Sein oder
Nichtsein.
    Mitten in der Nacht robbte Leo mit fünf Freiwilligen bis an den Rand
der riesigen Gletscherspalte heran, die ihnen bisher nur wie ein gewaltiger
Schlund erschienen war, der alles verschlingen wollte, was sich ihm näherte.
Vorsichtig seilten sie sich ab.
    Leo, im Zivilberuf Ingenieur, war der Erfahrenste von allen. Keine
Skitour war ihm jemals zu schwierig gewesen, enorme Strecken hatte er auf
seinen Brettern zurückgelegt. Diese Sicherheit in Schnee und Eis hatte ihm in
dieser Schlacht schon oft geholfen. Der Truppe allerdings nur selten – bis zu
diesem historischen Augenblick.
    Leo hatte als ersten Josef abgeseilt, jetzt folgte er selbst, dann
kam Ludwig. Er gehörte dazu, war er doch in gewisser Weise, wenngleich
unbeabsichtigt, der Vater dieser wahnwitzigen Idee.
    Kurze Zeit später befanden sie sich alle sechs tief unten im Eis.

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