Eiszeit in Bozen
gerade unter die Dusche gehen, als sich das Handy meldete,
das er auf die Spiegelablage gelegt hatte. Vincenzos Nackenhaare sträubten
sich. Welche Teufelei würde ihn jetzt erwarten? Er nahm ab.
»Hallo, Vincenzo, na, wie geht’s?«
Was für eine selten dämliche Frage. »Ging schon besser.«
»Ich kann dich gut verstehen. Glaub mir, unser Spiel ist für deine
Persönlichkeitsentwicklung von elementarer Bedeutung. Wenn es vorbei ist, wirst
du dich auf einer höheren Bewusstseinsebene befinden!«
Bitter lachte Vincenzo in sich hinein. Bewusstseinsebene! »Wenn du
das sagst.«
»Ganz bestimmt, du wirst sehen! Noch zwei Spielzüge, dann ist es
vorbei. Allerdings solltest du dich besser konzentrieren, du fängst an, Fehler
zu machen. Manchmal habe ich den Eindruck, dass du dich zu wenig um dich
kümmerst. Schläfst du überhaupt genug? Treibst du Sport? Du musst im Vollbesitz
deiner Kräfte sein, mein Freund, sonst wirst du scheitern.«
Vincenzo stand nackt vor der Dusche und starrte auf die Wandfliesen.
Ihm fuhr der Gedanke durch den Kopf, dass er, wenn das alles gut ausging,
seinen Job an den Nagel hängen, nach Mailand ziehen und sich eine
Aushilfstätigkeit suchen würde. Dann wollte er nichts weiter als ein ganz
normales, von Liebe erfülltes Leben mit Gianna!
»Vincenzo?«, tönte es fordernd aus dem Handy.
»Alles okay bei mir. Wie geht es weiter?«
»An deinem vorletzten Zug arbeite ich gerade. Vielleicht sollte ich
nach deinem letzten Versagen das Niveau ein bisschen senken. Es sollte schnell
gehen, du weißt ja, dein Einsatz … Wie gefällt dir eigentlich deine Strafe?«
Elisa. Jetzt begriff Vincenzo. Er hatte sich nicht vorstellen
können, dass es noch schlimmer wurde, aber die Bösartigkeit des Spielführers
war unergründlich. »Was hast du getan? Kennst du gar keine Grenzen?«, schrie
Vincenzo in das Gerät. Eine mächtige Hasswelle überflutete ihn.
»Ruhig, Vincenzo, nicht schreien, ich habe dich oft genug gewarnt!
Ist süß, die Kleine. So kindlich und unbedarft. Und zerbrechlich, man mag sie
gar nicht anfassen. Erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Guiseppe eher, nun, wie
soll ich sagen … fett und massig ist. Er ist bestimmt mächtig stolz auf seine
Tochter. Kennst du Elisa überhaupt?«
»Das ist es wohl, was du brauchst: Macht«, stieß Vincenzo hervor.
»Sonst gehst du ein wie eine Primel. So ist es doch, oder?«
»Ich scheine mich in dir getäuscht zu haben. Deine Gedankenwelt ist
erstaunlich primitiv. Ich dachte tatsächlich, dass wir aus demselben Holz
geschnitzt sind. Ich frage mich, ob es überhaupt Sinn hat weiterzuspielen.« Für
eine Antwort blieb keine Zeit, das Gespräch war beendet.
Vincenzo zwang sich mit aller Macht, seine eigene Situation zu
verdrängen und sich auf Marzoli und seinen Kummer zu konzentrieren. Es war
verrückt, er hatte tatsächlich ein schlechtes Gewissen. Das Gefühl, für das
Verschwinden von Elisa verantwortlich zu sein, weil er seine Eltern nicht
vollends in den Ruin getrieben hatte. Er wusste, was das Schwein bezweckte,
konnte sein Verhalten, die Situation analysieren, aber es nützte nichts. Das
schlechte Gewissen war trotzdem da.
Er schlich ins Wohnzimmer, griff zum Telefon, um Marzoli anzurufen,
ihn zu informieren, ihm zuzureden, ihn zu beruhigen. Oder besser doch nicht?
Unschlüssig blickte er auf das Gerät in seiner Hand. Sie hatten getan, was sie
konnten, eine Suchmeldung rausgegeben, Streifen losgeschickt. Marzoli würde nur
panisch, wenn er wüsste, bei wem seine Tochter war. Vincenzo bemerkte nicht,
dass er splitternackt vor seinem Panoramafenster stand, wo er einen
interessanten Anblick für seine Nachbarn bot.
***
Marmolata, 20.45 Uhr
Das war’s. Frustriert saß Hans Valentin im Rifugio Falier,
das vor der seltenen Wetterlage kapituliert hatte. Entgegen seiner Einschätzung
hatte es die Pforten geschlossen. Da der prominente Extremalpinist jedoch in
Südtirol hohes Ansehen genoss, bekam er jederzeit die Schlüssel sämtlicher
Hütten im Land. Nachdem auch das Biwak leer gewesen war, hatte er extra den
Umweg über die Cime Ombretta gemacht, um auf der Südseite einen kleinen
Gletscherrest zu prüfen. Er suchte irgendeinen Holzverschlag, eine Höhle,
irgendwas, wo Gianna stecken konnte. Nichts. Es war vorbei.
Gegen Mittag hatte es erstmals zugezogen, an der Cime Ombretta
begann es leicht zu schneien. Der Luftdruck war weiter gefallen, der Wind legte
zu und drehte auf Südwest. Weiter unten, an der auf zweitausend Meter
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