Eiszeit in Bozen
Gefühl.
Er hatte irgendwas übersehen. Aber was? Im Gebiet der Marmolata war Gianna
nicht, er hatte jeden erdenklichen Winkel abgesucht, wo man tagelang überleben
konnte. Dass der Hinweis auf Eis ein Täuschungsmanöver war, glaubte er nicht.
Giannas Entführer neigte dazu, sich selbst zu beweihräuchern, er suchte die
Bewunderung. Nein, Gianna war irgendwo im Eis. Und auch um den
Adamello-Gletscher gab es wahrlich genug Möglichkeiten, jemanden zu verstecken.
Ganz anders als die berühmte Marmolata war das wildes Gelände, eine Einöde.
Dennoch, er hatte diese merkwürdige Ahnung, die ihn schon beim
Aufbruch beschlichen hatte und ihn seitdem nicht mehr losließ. Er hasste es,
wenn er eine Wahrnehmung nicht zuordnen konnte. Es musste mit dem Gletscher
zusammenhängen, bloß wie? Wenn er einen Fehler beging und umsonst die weite
Strecke in die Nachbarprovinz fuhr, würde für Gianna jede Hilfe zu spät kommen.
Er setzte sich auf einen Stein, vergrub das Gesicht in den Händen und schloss
die Augen. Was hast du übersehen? Eine Biwakschachtel? Eine Hütte? Denk nach!
Es half nichts, es fiel ihm nicht ein. Er hatte keine Wahl. Seine
Entscheidung war gefallen, er musste ins Adamellogebiet. Er ging zügig weiter.
***
Sarnthein
Die Leistungen des Hochgebirgskrieges
gipfeln in den Begriffen Kameradschaft und Heimatliebe. Angesichts der
vielfältigen Bedrohungen des Hochgebirges war rückhaltlose Hingabe und
Aufopferung des Einzelnen ein Gebot der Selbsterhaltung. Jeder Wachposten wusste,
wie wichtig höchste Aufmerksamkeit war, damit die Kameraden drunten in der
Kaverne aus Eis ruhig schlafen konnten. Die gemeinsam überstandenen Gefahren
steigerten das Gefühl gegenseitiger Verbundenheit und das Vertrauen zueinander.
Auch das Verhältnis zwischen Offizier und Mannschaft war dort oben viel enger
und freundschaftlicher als im Tal, es wurde mit der Zeit zu einer richtigen
Bergkameradschaft. Trotz des jahrelangen Stellungskrieges sorgte schon der
Wandel der Jahreszeiten für ständige Abwechslung und ließ keine Langeweile
aufkommen. Zudem wurden die Besatzungen nur selten abgelöst, weshalb wir
trachten mussten, unsere Stellungen und Unterkünfte möglichst gut und wohnlich
auszugestalten.
Nachdem seine Idee, sich dem feindlichen Beschuss zu entziehen,
indem die Truppen von der Oberfläche des Gletschers in das Eis hinein verlegt
wurden, einmal geboren war, verfolgte Leo das gigantische Projekt mit aller
Konsequenz. Dabei kamen ihm sowohl seine hervorragenden Kenntnisse des
Ingenieurwesens zugute als auch die jahrelange Erfahrung in Eis und Schnee. Tag
für Tag drangen die Kameraden tiefer in die bizarre Welt der jahrtausendealten
Gletscher vor, um im Schutz des Eises eine regelrechte Stadt zu errichten.
Meter für Meter kämpften sie sich vor, viele Gefahren bedrohten
Leben und Gesundheit der Soldaten. Weil der Gletscher permanent in Bewegung
war, drohten Eisabbrüche, Höhlen konnten zusammenbrechen, Leiterbrücken, die
sie mühsam über Spalten bauten, wurden vom auseinanderdriftenden Eis zerfetzt.
Faszinierend zu sehen war für Leo, wie sehr die harte Arbeit die Männer
zusammenschweißte. Sie erschufen sich ihre eigene Welt jenseits der Front, eng
und eisig, aber ein beinahe unüberwindbarer Schutz vor dem Feind. Die Italiener
konnten von ihren Posten aus nicht erkennen, was ihre Gegner taten. Sie waren
lediglich verwundert, weil sie immer weniger Soldaten auf dem Gletscher sahen.
Voller Neugierde und Misstrauen mögen die Gegner
von der Punta Serauta aus beobachtet haben, wie allmählich alle menschlichen
Spuren auf der Oberfläche des Gletschers vom Wind verwischt wurden. Sie mussten
annehmen, dass wir unsere Stellungen verlassen hatten.
Leo wusste, dass seine Stadt im Bauch des Gletschers nicht ewig
erhalten blieb. Das Eis mit seiner zerstörerischen Kraft würde irgendwann alle
Baracken, Lager und Depots zermahlen und zerdrückt haben. In einigen
Jahrzehnten zeugte vielleicht nur noch der eine oder andere Gang, eine
besonders geschützt liegende Kaverne von seinem einzigartigen Projekt.
In Friedenszeiten wäre so ein Bauwerk wohl kaum möglich gewesen,
dazu brauchte es schon einen Krieg. Und nun waren die Männer, anstatt über
blankes Eis zu robben, Posten auszuspähen und im Gefecht zu stehen, täglich
damit beschäftigt, an allen Ecken und Enden auszubessern, was das Eis in einer
einzigen Nacht zunichtegemacht hatte. Zu seinem besten Mann avancierte Ludwig,
dessen sanftes Gemüt in einem
Weitere Kostenlose Bücher