Eiszeit in Bozen
bemerkenswerten Kontrast zu seinem
Überlebenswillen stand. So sehr er das Eis auch verfluchte, die Hoffnung, dem
Beschuss des Feindes und der martialischen Gewalt der Stürme nicht weiter
ausgesetzt zu sein, beflügelte ihn dermaßen, dass er arbeitete wie ein
Berserker.
Gemeinsam begutachteten sie die Folgen eines unerwarteten
Eisabbruchs, mit lautem Getöse war ein Gang zusammengebrochen. Die Soldaten
waren aus dem Schlaf gerissen worden, Panik machte sich breit. Doch sie hatten
Glück im Unglück gehabt, als es passierte, war niemand in dem Gang gewesen.
»Was meinst du, Leo, kriegen wir den wieder frei?«
Leo musterte den Haufen aus Eis. »Wäre zwar möglich, aber ich
befürchte, die ganze Sektion ist instabil. Wir sollten uns lieber eine
Ausweichroute überlegen. Da kommt eine Menge Arbeit auf euch zu.«
»Das ist mir egal. Hauptsache, nicht mehr diese permanente Angst vor
den Kugeln der Italiener. Außerdem sind es draußen bald dreißig Grad unter
null. Hier drin sind wir nicht nur vor Kugeln und Granaten, sondern auch vor
dieser erbärmlichen Kälte sicher. Wenn wir lange genug ausharren, kommen wir
bald wieder heim zu unseren Liebsten.«
Leo musste lachen. »Stimmt, mein Freund. Allerdings hast du im
Sommer auf dem Gletscher zwanzig Grad plus, dann ist es im Eis nach wie vor
knapp unter null. Aber ich verstehe, was du meinst. So geht es uns schließlich
allen. Der Gedanke an zu Hause hält uns am Leben.«
Ludwigs Traum erfüllte sich, Weihnachten 1918 war er wieder bei
seiner Familie. Anderthalb Jahre hatte er im Eis gelebt, zusammen mit bis zu
vierhundert Kameraden. Er war ein anderer Mensch geworden. Körperlich
erinnerten ihn lediglich drei abgefrorene Zehen an diese schlimmste Zeit seines
Lebens. Aber in vielen Nächten plagten ihn Alpträume von Stürmen, Granaten,
zerfetzten Körpern. Doch es gab auch die andere Seite. Das Eis, ihr
erbittertster Feind, hatte sie zu einer eingeschworenen Gemeinschaft geformt.
Die Freundschaften, nicht nur die zu Leo, sollten zeitlebens halten.
Schweißgebadet wachte Vincenzo auf. Er hatte so intensiv und
realitätsnah geträumt, dass er im ersten Moment nicht sicher war, ob das Ganze
tatsächlich nur ein Traum war.
Er stand auf, trank einen Espresso, dann stellte er sich unter die
Dusche. Plötzlich war sie wieder da, die Erinnerung an das, was Hans ihm
tatsächlich schon einmal in aller Ausführlichkeit erzählt hatte. Als wäre es
erst gestern gewesen, sah er sich bei Hans in Ahornach sitzen und Rotwein
trinken. Vincenzo hatte seinem Freund gerade erklärt, er liebe die Berge auch
deshalb, weil er dort Frieden fand, Ablenkung von der täglichen Konfrontation
mit Verbrechen und Gewalt.
Hans hatte genickt. »Ja, ich weiß, was du meinst. Trotzdem, ob du es
glaubst oder nicht: Im Ersten Weltkrieg gab es dort oben jede Menge Verbrechen
und Gewalt.«
Und dann hatte ihm Hans von dem bizarren Bergkrieg zwischen den
Italienern und den Österreichern erzählt. Von einer riesigen Bergfront, vom
Sprengen der Bergkuppen, um den Gegner im Steinschlag zu zermalmen, und von
jener Stadt im Eis der Marmolata, die Leo Handl zum Schutz der österreichischen
Soldaten errichtet hatte.
Noch bevor sich Vincenzo anzog, griff er zum Telefon. Er wusste
jetzt, wo Gianna war. Und damit stand fest, was nun geschehen musste.
***
Questura, 10.30 Uhr
Guiseppe Marzoli war als Erster in der Questura. Sie
hatten vereinbart, sich jeden Morgen spätestens um acht Uhr zu treffen, am
Wochenende, wie heute, um zehn. Die Zeit lief gegen sie. Trotz der
Erleichterung über Elisas Rückkehr war Marzolis Anspannung noch immer so groß,
dass er die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte. Oberrautner hatte Elisa den
ganzen Tag bei sich behalten. Das war seine Strafe für den Commissario gewesen.
Wie weit würde dieser Mensch noch gehen? Was würde er heute von Bellini
verlangen?
Während sich Marzoli ausmalte, was für widerliche Spielzüge noch
bevorstehen konnten, betrat Mauracher Vincenzos Büro. Ihr war anzusehen, dass
sie ebenfalls kaum geschlafen hatte, aber sie plauderte dennoch munter drauf
los. »Guten Morgen, Ispettore, Sie sehen arg mitgenommen aus. Schlimme Nacht?«
»Haben Sie das mit Elisa gar nicht mitbekommen?« Mauracher setzte
sich Marzoli gegenüber, der instinktiv die Etagere zu sich herzog. Bellini hatte
sie am Abend zuvor nicht aufgefüllt, deshalb hatte Marzoli eigenmächtig eine
neue Tüte aus Vincenzos Schreibtisch geholt. Er wusste, dass er am Schreibtisch
des Commissario
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