Eiszeit in Bozen
Endlich
konnten sie ihre Fackeln anzünden. Leo wusste, dass schon seine
Drahtseil-Hängebrücke an der Ricoletta eine Meisterleistung der Ingenieurskunst
gewesen war. Doch wenn sich sein aberwitziger Plan realisieren ließe, würde er
sich damit selbst ein Denkmal setzen und in die Geschichtsbücher eingehen. Sie
gingen am Fuß der Spalte entlang, untersuchten die Eiswände auf natürliche
Höhlungen. Wo konnten sie am besten ansetzen? Wo war die Gefahr eines Eisbruchs
am geringsten? Ein Projekt von gigantischen Ausmaßen, aber die Zeit drängte.
Selbst Leo, der in seinem Leben jede erdenkliche Eisart erforscht hatte,
blickte voller Demut auf die bizarren, riesenhaften Eisformationen.
Bei der Durchforschung der glitzernden Gemächer
standen wir immer wieder still vor Bewunderung: Feinkörnige weiße Firnwände,
von waagrechten, durchsichtigen Eisbändern durchzogen, wechselten mit
malachitgrünen rundlichen Gesimsen, von denen tausendfach schimmerndes und
funkelndes, seidenartig glänzendes Eiszapfengeschmiede in den wunderlichsten
Formen herniederhing. Hätten die Ahnen von diesen blauen Wundern gewusst, wie
viel anders wäre die Sage von dem Märchenschloss der Königin Marmolata gewesen!
Ludwig gesellte sich zu Leo. »Hast du je zuvor etwas Derartiges
gesehen, Leo?«
»Nein, Ludwig, das ist wie eine Welt, von der man nicht weiß, ob
hier der Herrgott haust oder der Leibhaftige persönlich.« Eine Weile schweigen
sie andächtig vor diesem Wunderwerk der Natur.
»Glaubst du, dass es funktionieren wird, Leo?«
Leo nickte und ballte die Hände zu Fäusten. »Ja, wird es! Es wird
funktionieren! Ich sehe es vor mir: Wir graben in zwei Richtungen, hier und in
den anderen Spalten, und verbinden alles mit unterirdischen Gängen. Ich werde
die Wege, Spalten und Höhlen mit Namen versehen, genau wie Straßen in Städten,
damit ihr euch zurechtfinden könnt. Es wird Depots für die Munition geben,
Baracken als Unterkünfte, einen Raum für die Ärzte und Sanitäter, eine
Fernsprechzentrale, Vorratsräume. Sogar Strom werden wir haben. Jawohl, mein
Freund, es wird klappen! Die verdammten Italiener können sich warm anziehen!«
Hier befinden sich alle Baracken unterm Eis.
Immer Nacht, nur Kerzenschein, nur die Wachposten sehen das Tageslicht. Die
andern bemerken den Tag nur, wenn sie an Gletscherspalten kommen. Aber auch da
ist man zwanzig bis vierzig Meter darunter. In den Baracken gibt es immer
Rauch. War man einen Monat dort, wurde man schwarz wie die Neger in Afrika.
Unruhig wälzte sich Vincenzo in seinem Bett hin und her. Als er
für einen Moment aufschreckte, spürte er, dass er am ganzen Körper schwitzte.
Er befand sich in einem Zustand zwischen Traum und Wirklichkeit, sah alles, was
er gerade geträumt hatte, klar vor sich, wäre aber nicht in der Lage gewesen,
es in Worte zu fassen.
Da war der gewaltige Marmolatagletscher, er hörte das Geräusch von
Schüssen und die Schreie der Getroffenen. Dann tauchte er schnell wie in einem
Hubschrauber auf eine riesige Gletscherspalte hinab. Mit atemberaubender
Geschwindigkeit ging es hinein in den Gletscher, und plötzlich war da so etwas
wie eine Stadt. Er sah Soldaten, Verwundete, Schlafräume. Alles konnte er
sehen, aber niemand nahm ihn wahr. Er schien für die anderen unsichtbar zu
sein.
Dann löste sich aus dem Menschengemenge eine Gestalt und kam direkt
auf ihn zu. Vincenzo erkannte Hans Valentin. Der Bergführer fasste ihn am Arm
und zog ihn in die Baracken hinein. »Komm mit mir, Vincenzo, ich habe dir so
viel davon erzählt. Folge mir, und du wirst staunen. Gianna ist auch hier! Sie
wartet schon auf dich.«
***
Malga Ombretta, unterhalb des Rifugio Falier,
05.30 Uhr
Valentin passierte die Malga Ombretta. Im Sommer war die
Alm mit der herrlichen Panoramalage an der mächtigen Südwand der Marmolata eine
beliebte, auf bequemen Wegen erreichbare Jausenstation. Allein der
beeindruckende Blick nach Westen auf die Cime Ombretta lockte täglich Dutzende
Wanderer an. Jetzt lag trotz der Plusgrade während der letzten Tage noch eine
Menge Schnee. Hans sah keinerlei Fußspuren im Schnee, erwartungsgemäß war nach
dem ersten Wintereinbruch niemand mehr zu der Alm gekommen. In achtundvierzig
Stunden würde die Hütte nur mehr mit Skiern erreichbar sein.
Wenn er den im Sommer viel begangenen Dolomiten-Höhenweg Nummer 2
erreicht hatte, war er fast in Malga Ciapela. Das Wetter hielt sich,
ordentliche Bedingungen für den Adamello. Trotzdem hatte er ein ungutes
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