Eiszeit in Bozen
stabilen Bereiche eines Gletschers verfügt.
Valentin musste sich quer in den Eisgang hineinschieben, Eisstürze
hatten den Einstieg erheblich verengt. Nach wenigen Metern öffnete sich der
Gang, er konnte aufrecht gehen. Nach ungefähr zweihundert Metern wurde der Weg
wieder schmaler und führte schließlich in eine kleine Halle, von der weitere,
überwiegend verfallene Stollen abgingen. Valentin schloss die Augen, versuchte,
sich zu erinnern. Einer der Gänge führte tiefer in den Gletscher hinein. Gab es
nicht noch weitere Hallen? Er lauschte einen Moment in die Stille hinein.
Nichts, keine Geräusche, außer von dem sich immerzu bewegenden Eis.
Valentin ging zu jedem begehbaren Stollen und schrie Giannas Namen
hinein. Keine Antwort. Möglicherweise waren die Gänge zu tief oder zu sehr
verwinkelt, um seine Stimme bis in die nächste Halle zu tragen. Er entschied
sich, mit dem breitesten Gang zu beginnen, der sich allerdings im weiteren
Verlauf verjüngte. Stollen und Höhlungen waren nach all den Jahren noch
bemerkenswert gut erhalten. Das bestätigte ihn in seiner Überzeugung, Gianna in
diesem Teil des Gletschers zu finden. Dieser Oberrautner musste sich hier
außergewöhnlich gut auskennen.
Valentin ging zunächst ein paar Meter in jeden der anderen Gänge
hinein, um sie auszuschließen. Nach zwanzig Minuten drang er dann in den
breiten Gang vor, der zu Gianna führen musste. Gleichmäßig, mit geübten
Schritten bewegte er sich auf dem spiegelblanken Eis vorwärts. Vor sich sah er
einen scharfen Rechtsknick, der wohl erklärte, warum Gianna seine Rufe nicht
gehört hatte. Noch zwanzig Meter bis zu der Biegung. Er ging langsam darauf zu.
***
Questura, 11.20 Uhr
»Unsere Berge waren im Ersten Weltkrieg Schauplatz eines
bizarren, absurden Krieges. Ich habe letzte Nacht davon geträumt,
wahrscheinlich wegen der wiederholten Hinweise des Entführers auf Eis. Hans
Valentin hat mir vor Jahren in aller Ausführlichkeit davon erzählt. Ich fand
das faszinierend, hatte es aber vergessen. Bis letzte Nacht. Da ist mir alles
wieder eingefallen. Weil die Österreicher auf dem Gletscher ständig unter
italienischem Beschuss lagen und keinerlei Möglichkeiten hatten, in Deckung zu
gehen, kam der Tiroler Leutnant Leo Handl, ein Ingenieur aus Innsbruck, auf die
ebenso verrückte wie geniale Idee, sich in den Marmolatagletscher einzugraben
und dort eine Festung im Eis zu errichten.« Marzoli und Mauracher lauschten
Vincenzos Ausführungen voller Ehrfurcht. Sogar ihren Streit um seine Cantuccini
ließen sie ruhen.
»In den Tiefen des Gletschers waren sie vor Angriffen sicher. Die
Italiener haben nichts davon mitbekommen, sie dachten, sie hätten den Gegner
erfolgreich dezimiert. Ihr findet darüber kaum was in den Geschichtsbüchern
oder im Internet. Das liegt daran, dass Handls Projekt eine reine
Verteidigungsmaßnahme war. Berühmt wird man in Schlachten vor allem durch
ausgefeilte Angriffsstrategien und hohe gegnerische Verluste. Wer interessiert
sich schon für einen Rückzugsplan, der die Soldaten schützen soll? Hans Valentin
hat mir beschrieben, dass man im Marmolatagletscher heute noch Reste von Handls
Eisstadt findet. Und dort ist Gianna, davon bin ich überzeugt. – Ich habe heute
früh mit Hans Valentin telefoniert, der schon auf dem Weg in die Adamellogruppe
war. Er ist sofort zurück auf den Gletscher, in Kürze wird er die Überreste von
Handls Eisstadt erreichen. Hans meint, dass die Anlage in einigen Sektoren
durchaus noch stabil genug ist, um jemanden gefahrlos gefangen zu halten,
zumindest für einen kurzen Zeitraum. Ich warte jede Sekunde auf Hans’ Anruf,
dass er Gianna gefunden hat. Wir haben kaum noch Zeit, denn jetzt kommt die
schlechte Nachricht: Ich habe den nächsten Brief von Oberrautner erhalten.«
Vincenzo wedelte mit einem Blatt Papier. »Was er diesmal von uns
fordert, geht nicht.« Müde rieb er sich die Augen, trank mit einem Schluck
seinen Espresso aus. »Ich lese Euch den Brief vor:
Lieber Vincenzo, mein teurer Freund,
spannend ist unser Spiel, spannend und
anregend. Ich spüre, dass du es ähnlich empfindest. Wir sind aus demselben Holz
geschnitzt. Schade, dass das Wetter nicht mitspielt. Wie gern würde ich unser
Spiel noch in die Länge ziehen und dich mit weiteren anspruchsvollen Spielzügen
auf das große Finale vorbereiten. Es geht leider nicht. Morgen kippt das
Wetter, glaub mir. Lass dich nicht von der Sonne täuschen, das ist nur die Ruhe
vor dem Sturm. Bevor ich dir den
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