Eiszeit in Bozen
Sicherlich würde Michael Oberrautner
spätestens mittags reumütig heimkehren. »Bitte versuchen Sie ruhig zu bleiben,
Frau Oberrautner. Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Ehemann mal eine Nacht
lang nicht nach Hause kommt. In der Mehrzahl der Fälle kehrt der Vermisste von
selbst zurück, und die Erklärung ist zumeist verblüffend banal. Wahrscheinlich
hat Ihr Mann mit seinem Kontakt bis in die Nacht hinein zusammengesessen und
debattiert. Vielleicht hat er sogar versucht, Sie anzurufen, aber er befand
sich in einem Funkloch. Es gibt Dutzende möglicher Gründe, allesamt harmlos.
Bitte gehen Sie nach Hause. Vielleicht wartet Ihr Mann schon auf Sie und fragt
sich seinerseits, wo Sie bleiben. Wenn nicht, telefonieren Sie mit den Leuten,
bei denen Ihr Mann theoretisch sein könnte. Sollte das bis heute Abend
ergebnislos bleiben, kommen Sie wieder in die Questura. Dann nehmen wir eine
Vermisstenanzeige auf. Gegebenenfalls benachrichtigen wir die Presse. Haben Sie
ein Foto von Ihrem Mann dabei?«
Daran hatte Frau Oberrautner gedacht. Das Foto zeigte ihren Mann in
Shorts an einem Strand. Michael war ein gut aussehender, allem Anschein nach
sehr sportlicher Mann, groß, dunkelhaarig, durchaus charismatisch. Er war
Schriftsteller, schrieb Phantasieromane, die sich jedoch nicht allzu gut
verkauften. Das kinderlose Ehepaar Oberrautner lebte vor allem vom Gehalt der
Frau, die als Empfangschefin in einem Vier-Sterne-Hotel arbeitete.
Allerdings kam Vincenzo dieser Michael Oberrautner bekannt vor.
Nachdem Elisabeth Oberrautner gegangen war, loggte er sich, einer Eingebung
folgend, in die Verbrecherkartei ein. Sein Instinkt trog ihn nicht, er fand ihn
auf Anhieb. Michael Oberrautner war achtundvierzig, vorbestraft wegen diverser
Drogenvergehen, versuchter Erpressung, Nötigung und eines Gewaltdeliktes. Er
war zeitweise in psychiatrischer Behandlung gewesen, weil er sich von der
Polizei und dem italienischen Rechtssystem verfolgt fühlte. Es war anzunehmen,
dass der erfolglose Schriftsteller nicht nach Hause gekommen war, weil er
wieder »ein Ding« plante. Sie würden ihn tatsächlich suchen müssen, allerdings
unter anderen Vorzeichen. Dazu gehörte auch eine Vermisstenmeldung in der Dolomiten , dem Tagblatt der Südtiroler.
Der Name Oberrautner sollte Vincenzo noch häufiger begegnen, als er
in diesem Moment ahnen konnte.
5
Sarnthein, Wochenende, 2./3. Oktober
Am Mittwoch hatte es endlich aufgehört zu regnen. Von
einem Tag zum nächsten verschwand die Kälte, es wurde spätsommerlich warm.
Nachdem Vincenzo mittags seine Eltern in ihrer Trattoria besucht hatte, um mit
ihnen zu essen, fühlte er sich wie neugeboren.
Unglaublich, was für einen Einfluss Wetter auf den Gemütszustand
hatte. Solange die Sonne schien, war man heiter und unbeschwert. Kaum war es länger
als einen Tag trüb, nass und kalt, verfiel man in einen trägen, missmutigen
Zustand und hatte zu nichts Lust. Auf dem Rückweg in die Questura hatte er so
laut vor sich hin gepfiffen, dass sich die Leute nach ihm umdrehten.
Wie sehr hatte er sich auf seine Bergrunde gefreut! Er fuhr schon um
drei Uhr nach Hause, zog seine Laufsachen an und war keine Stunde später am
Auener Joch. Eine Idylle. Kristallklare Luft, eine atemberaubende Fernsicht auf
den verschneiten Ortler, rundherum die herbstlich verfärbte Heide, die einen
betörenden Duft verströmte. Am liebsten hätte er laut herausgeschrien, wie
wunderbar die Welt war.
Bis Freitag war die Fahndung nach Michael Oberrautner erfolglos
geblieben, der, entsprechend der Einschätzung seiner Frau, tatsächlich nicht
zurückgekommen war. Dafür gab es den Durchbruch bei der Brandserie. Sie hatten
den Feuerteufel gefasst, und er war in allen Punkten geständig. Er war jung,
noch keine dreißig, äußerlich fast so klein und zart wie ein Kind, ein glattes,
bartloses Gesicht, auffallend schmale Schultern. Sein einziges Motiv war
Faszination, er war dem Feuer verfallen. Es war purer Zufall, dass sie ihn
diesmal erwischt hatten: Einem aufmerksamen Anwohner war der gehetzt um sich
blickende Fremde aufgefallen, und er war ihm unbemerkt gefolgt. Als er sah, wie
der Unbekannte eine Flüssigkeit gegen die Wände eines Bretterverschlags
spritzte, rief er sofort die Polizei. Sie ertappten den Brandstifter in
flagranti.
Doch damit nicht genug: Vincenzos Freundin Gianna dal Monte, eine Mailänder
Rechtsanwältin, die er im Sommer wegen einiger haariger Gerichtsprozesse an
vielen Wochenenden kaum zu Gesicht bekommen
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