Eiszeit in Bozen
stand vor ihr, hochgewachsen,
breite Schultern, ein Gesicht wie gemeißelt, tiefe, männliche Stimme, und
erzählte ihr, dass er gedenke, das Haus für einen Monat zu buchen. Mitten im
Herbst, auf fast tausendvierhundert Meter Höhe. Er war ein Typ, der in
Hochglanzbroschüren, in ein Pariser Modehaus oder gar nach Hollywood gepasst
hätte. Aber nicht auf einen abgelegenen Hof im Ultental.
»Stadler, Frau Hofer, Alois Stadler. Aus München. Ich bin
Schriftsteller. Ich schreibe Bücher und Bildbände über die Alpen. Dieses Jahr
ist Südtirol an der Reihe. Es wird mehr als einen Band geben. Schließlich hat
Ihre Heimat viel zu bieten. Die traumhafte Natur, eine vielfältige Kultur, ein
traditionsreiches Brauchtum. Dazu die leidvolle Geschichte dieses Landes. Ich
habe also viel zu tun, muss hier gründlich recherchieren. Insofern würde ich
nicht ausschließen, dass ich Ihr Haus sogar länger benötige. Selbstverständlich
werde ich eine adäquate Vorauszahlung leisten.«
Das war interessant. Jemand, der Reisebücher schrieb. Das passte
auch zu ihm. Und es eröffnete interessante Perspektiven. Nicht allein
finanziell, weil das Haus viel teurer war als die kleineren Wohnungen und nach
frühen Wintereinbrüchen im Herbst nur selten vermietet werden konnte. Sein
Projekt wäre auch eine erstklassige Werbung für ihren Ferienbetrieb. Sie musste
ihn dazu bringen, dass er in seinen Büchern ihren Hof erwähnte. Idealerweise
mit Fotos und schwärmerischen Hinweisen auf die herrliche Lage, die herzliche
Gastfreundschaft … Genau darauf kam es an.
»Das klingt spannend, Herr Stadler. Kommen Sie doch rein, Sie holen
sich ja den Tod, wenn Sie noch länger in Ihrem dünnen Hemd im Schneetreiben
rumstehen. Ich mache Ihnen einen schönen heißen Tee, und dann besprechen wir
alles. Sie können das Haus gerne haben. Wenn Sie es für so lange Zeit und in
der Nebensaison buchen, komme ich Ihnen im Preis natürlich entgegen. Um diese
Zeit ist es schon recht ruhig, aber Sie können sich nicht vorstellen, was im
Sommer los ist. Mein Hof ist inzwischen ein echter Geheimtipp, wissen Sie.«
4
Bozen, Donnerstag, 30. September
Vor Vincenzo saß eine aufgelöste Frau Mitte vierzig. Sie
war klein, sehr schlank, auf eine spröde Art hübsch und elegant gekleidet. Ihre
Art wirkte äußerst energisch und lebhaft, aber auch unruhig, rastlos. Doch
trotz ihrer Anspannung strahlte sie Selbstbewusstsein aus. Sie wartete schon
seit sieben Uhr morgens in der Questura auf einen Beamten, der ihre Anzeige
aufnehmen konnte. Sie hieß Elisabeth Oberrautner und seit dem Vorabend
vermisste sie ihren Mann Michael.
Vincenzos Abteilung war eigentlich nicht für verschwundene Ehemänner
zuständig, aber da er die Signora nicht länger als nötig in dem unattraktiven
Flur der Questura herumsitzen lassen wollte und im Moment nicht viel zu tun
hatte, nahm er sie mit in sein Büro. Er fand schnell heraus, dass Michael die
ganze Nacht nicht nach Hause gekommen war und versuchte, sie zu beruhigen.
»Frau Oberrautner, haben Sie schon bei Freunden und Bekannten nachgefragt? Wäre
es denkbar, dass Ihr Mann irgendwo versackt ist, dass er alkoholbedingt nicht
mehr in der Lage war, Ihnen Bescheid zu sagen, oder es vergessen hat?«
Sie schüttelte energisch den Kopf. »Niemals! Erstens trinkt Michael
höchst selten, zweitens würde er niemals wegbleiben, ohne mir Bescheid zu
sagen. Meinen Sie, sonst würde ich hier sitzen?«
Vincenzo hob beschwichtigend die Hände. »Schon gut, wohin wollte Ihr
Mann denn? Ist Ihnen gestern Abend irgendwas aufgefallen? War etwas Besonderes?
Hatten Sie vielleicht einen Streit?«
Ihre Antwort kam prompt. »Er hat einen Anruf bekommen. Das war gegen
sieben. Michael sagte, es sei was Geschäftliches, deshalb müsse er noch mal
weg. Das kam mir übrigens keineswegs seltsam vor. Michael hat immer
irgendwelche verrückten Ideen. Ehe Sie fragen: Als er um Mitternacht nicht zurück
war und ich ihn über sein Handy nicht erreicht habe, habe ich in die
Anruferliste geschaut. Es war ein Anruf mit Rufnummernunterdrückung. Wir haben
nicht gestritten, wir streiten ohnehin kaum. Hören Sie, Commissario, ich
phantasiere nicht. Ich kenne meinen Michael. Ich weiß, dass etwas passiert ist.
Sitzen Sie doch nicht länger untätig herum! Unternehmen Sie was!«
Dass ein erwachsener Mann ohne Vorankündigung über Nacht nicht nach
Hause kam, war nichts Außergewöhnliches. Ein Umtrunk mit Freunden, man vergaß
die Zeit, übernachtete bei den Freunden.
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