Eiszeit in Bozen
von allen Seiten gut einsehbar war. In diesem Moment spürte er bereits
Giannas Hand zwischen seinen Beinen und ihre Zunge in seinem Mund.
Die Welt um sie herum versank, und als die beiden aus ihrem Kokon
wieder auftauchten, war für das Picknick keine Zeit mehr, denn die Bergketten
im Osten wurden von der untergehenden Sonne bereits tiefrot gefärbt. Eilig
raffte Vincenzo alles zusammen, schweigend und glücklich stiegen sie über Almen
und Bergwälder schnell nach Sarnthein ab.
Auf Vincenzos Balkon breiteten sie die kulinarischen Köstlichkeiten
erneut aus. Nach den leidenschaftlichen Stunden am Auener Joch und den
Anstrengungen der Tour waren sie auf eine äußerst entspannte Weise ausgelaugt.
Nachdem sie das gesamte Picknick aufgegessen hatten, begleitet von zahlreichen
Gläsern veritablen Weines, schwenkte Gianna den abschließenden Grappa in ihrem
Glas. »Mein schöner Kommissar, das war ein wunderschöner Tag. Es ist wirklich
traumhaft hier. Ich würde nächstes Jahr sogar eine Hüttentour mit dir machen.
Und ich bin davon überzeugt, dass wir das mit dem Wohnort schon geregelt kriegen.
Denn ich liebe dich!«
Den Sonntag verbrachten sie im Bett. Nach dem Exzess des Vorabends
bestand ihr Frühstück lediglich aus einem großen Kaffee. Abends brachte
Vincenzo seine Gianna zum Bahnhof und verabschiedete sie mit einem langen,
intensiven Kuss. Ciao zu sagen fiel ihnen beiden unendlich schwer, denn an
diesem Wochenende war eine neue Dimension der Intimität zwischen ihnen
entstanden. Als der Zug langsam den Bahnhof verließ, winkten sie sich ein
letztes Mal zu.
***
St. Pankraz
Der Herr Stadler aus München war ein geschäftiger Mann,
Trägheit zählte nicht zu seinen Charaktereigenschaften. Die ganze Woche über
hatte er das Ferienhaus in der Morgendämmerung verlassen, bewaffnet mit einem
großen, schweren Rucksack. Da war bestimmt seine Fotoausrüstung drin, die
musste ein Vermögen gekostet haben. Wenn er zurückkam, war es meistens schon
dunkel. Wahrscheinlich wollte er die wenigen schönen Tage nutzen, um möglichst
viele Fotos von der Gegend zu machen.
Maria Hofer war eine Frühaufsteherin. Mit der jahrzehntelangen
Führung des Hofes war ihr dieser Lebensrhythmus in Fleisch und Blut
übergegangen. Ihre erste Tasse Kaffee trank sie am Küchenfenster, im Schutze
des Vorhangs, um zu beobachten, wann Herr Stadler das Haus mit dem gut
ausgeleuchteten Außenbereich verließ, und am Abend hielt sie Ausschau danach,
wann er zurückkam. Sie fand schnell heraus, dass er nicht nur ein geschäftiger,
sondern auch ordentlicher, reinlicher Mann war. Wenn er ging, war seine
Wanderkleidung picobello sauber, seine Bergschuhe frisch geputzt. Kam er
zurück, sah er aus, als hätte er sich im Schlamm gewälzt. Das brachte
sicherlich sein Beruf als Autor von Trekkingliteratur mit sich.
Am Sonntag hatte sie in der Frühe vergeblich auf Herrn Stadler
gewartet. Auch einem Schriftsteller schien dieser Tag heilig zu sein. Als sie
es sich nachmittags vor ihrem Haus gemütlich gemacht hatte, um noch einmal die
wärmenden Strahlen der Sonne zu genießen, trat plötzlich Alois Stadler aus dem
Haus. Von wegen heiliger Sonntag! Er trug wieder diesen mörderischen Rucksack,
und diesmal baumelten an den Seiten zusätzlich diverse Seile. Von anderen
Gästen wusste Maria Hofer, dass diese Dinge zur Kletterausrüstung eines
Bergsteigers gehörten. Was wollte ein Schriftsteller mit Kletterseilen? Sie
konnte ihre Neugier nicht zügeln. Bevor ihr Gast sein Auto erreicht hatte,
sprach sie ihn an.
»Hallo, Herr Stadler, herrliches Wetter heute, was?«
»Frau Hofer! Ich habe Sie gar nicht bemerkt. Ja, das letzte
Aufbäumen des Sommers. Das will ich unbedingt nutzen, um möglichst viele Fotos
zu machen.«
Sie wies mit dem Zeigefinger auf die Seile. »Dafür brauchen Sie das
da?«
Alois Stadler zog lächelnd an den Seilen. »Ein Bildband muss alle
Facetten einer Landschaft abbilden. Bei Ihnen in Südtirol gehören Felsen und
Schnee dazu. Heute gehe ich auf den Schönboden, um den Sonnenuntergang zu
fotografieren. Wenn der Wetterbericht sich nicht irrt, wird es da oben in den
nächsten Tagen reichlich Neuschnee geben, dann komme ich nicht mehr rauf. Die
Seile nehme ich zur Sicherheit mit. Wenn ich absteige, wird es fast dunkel
sein. Ich kenne das Gelände nicht. Jetzt muss ich aber wirklich los. Auf
Wiedersehen, Frau Hofer.«
Während er sich noch verabschiedete, stieg er auch schon in seinen
Wagen. Offenbar war ihm nicht nach Small Talk
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