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Eiszeit in Bozen

Eiszeit in Bozen

Titel: Eiszeit in Bozen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Rueth
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Bergkrieg.
    Bellini und dieser Valentin, sie waren überzeugt davon, dass es die
Marmolata sein musste. Klar. Lag auch nahe. Zu nahe. Sie hatte von Anfang an
Zweifel gehabt. Wenn der Typ tatsächlich so abgedreht war, suchte er sich
keinen Berg aus, der so berühmt war wie das Matterhorn. Der wusste etwas
Besseres, darauf würde sie wetten. Etwas, worauf so schnell keiner kam.
    Sie lief in den Keller. Was für ein Chaos. Wie sollte sie Winnies
Skizzen da bloß finden? Sie schloss für einen Moment die Augen, dachte
angestrengt nach. Wo hatte sie die Aufzeichnungen hingetan? Auch, wenn sie die
Geschichte damals nicht geglaubt hatte, war sie sorgsam mit Winnies Geschenk
umgegangen. Die Unterlagen lagen mit Sicherheit nicht ungeschützt irgendwo
herum.
    Da fiel es ihr wieder ein. An dem Tag, an dem Winnie ihr seine
Skizzen geschenkt hatte, hatte sie von ihren Eltern neue Sneakers bekommen. Die
Zeichnungen hatte sie in dem Karton verstaut, und den musste sie suchen. Sie
zog ein paar Kisten vor, schaute hinein und dahinter, sah in einen kleinen
Schrank. Dort entdeckte sie den Karton. Sie öffnete ihn, sah sich die Skizzen
genau an. Mit einem Gefühl des Triumphes kehrte sie in ihre Wohnung zurück.
    Sie fuhr ihren Laptop hoch, um sich die Unwetterwarnungen anzusehen. Markante Front, Temperatursturz, Orkan, starke, andauernde
Niederschläge. Gefahr umstürzender Bäume durch Sturm und nassen Schnee,
umherfliegende Dachziegel, vorgelagerte, unwetterartige Gewitter möglich,
Schneeverwehungen mit fallender Höhentendenz, zunehmende Lawinengefahr, schwere
Überschwemmungen in tiefen Lagen, Erdrutsche. Autofahrten vermeiden, Häuser
wenn möglich nicht verlassen. Das Ganze ab dem frühen Nachmittag. Schon
vorher Gefahr einzelner Sturmböen.
    Alle Achtung, was auf Südtirol zukam, war verdammt krass.
    Sie hatte eine konkrete Idee, aber zu wenig Zeit, um die nötige
Telefonaktion zu starten. Davon abgesehen hatte der Irre sie mit Sicherheit am
wenigsten auf dem Plan. Sie schloss ihre Balkontür, ihr Entschluss war gefasst.
In Windeseile raffte sie alles zusammen, was sie brauchte, Proviant,
Handschuhe, Mütze, Schal, Windstopper, Gletscherbrille, Tourenkarte. Nicht
vergessen: Winnies Skizzen, die Eisausrüstung und ihr Tandemboard. Hoffentlich
hatte sie genug Benzin im Tank. Sie rannte das Treppenhaus runter, warf den
großen Rucksack, der fast so groß war wie sie, auf den Rücksitz und fuhr los.
So schnell, wie es mit ihrem kleinen Punto möglich war.
    ***
    Forensische Psychiatrie, 09.15 Uhr
    Träge und lustlos hing er auf der Pritsche, starrte an die
hässliche, fleckige Decke. Auffällig war, dass es keinerlei Spinnennetze gab,
obwohl hier schon lange nicht mehr saubergemacht wurde. Diese Zelle war wohl
selbst für Insekten zu abgeschirmt.
    Er kam überhaupt nicht mehr in die Gänge. Wo war bloß seine Energie
geblieben? An dem bisschen Diazepam konnte es nicht liegen, das war er gewohnt.
Obwohl, wann hatte er sich das letzte Mal richtig gut gefühlt? Lange her, wenn
er ehrlich war. Dabei müsste er eigentlich bester Laune sein. Heute war
schließlich der große Tag, sein großer Tag. Noch ein paar Stunden, dann war es
vorbei. Dann war er raus aus diesem widerlichen Loch, konnte endlich ein neues
Leben anfangen. Wie lange hatte er davon geträumt.
    Seit einiger Zeit kam es ihm so vor, als würden die Tage immer
langsamer vorüberziehen, er aber umso schneller altern. Wie oft hatte er über
die Frage nachgedacht, ob es für jeden Menschen ein vorbestimmtes Schicksal gab
oder ob jeder seines eigenen Glückes Schmied war. Träfe Ersteres zu, dann trug
er keinerlei Schuld. Wenn nicht, müsste er an sich zweifeln. Er war zu der
Überzeugung gekommen, dass die Wahrheit irgendwo dazwischen lag, wie so oft im
Leben. Es gab schicksalhafte Begegnungen und Zufälle, durch die das Leben einen
radikalen Richtungswechsel erfuhr. Man machte Pläne, die klappten oder auch
nicht, und manchmal ging es lange gut. Manchmal aber kam es zu folgenschweren
Brüchen. Das war Glück oder Pech, davon war er überzeugt, das hatte eigentlich
nichts mit guter oder schlechter Planung zu tun. Der eine gewann im Lotto –
Glück –, der andere kam dahinter, dass der Partner ihn betrogen hatte – Pech –,
die Nächste träumte von einer Karriere als Model und wurde in einer Disco von
einem Modelscout entdeckt. Eine andere Zahlenfolge, ein anderer Partner oder an
diesem Tag in einer anderen Disco oder in dieser Disco an einem anderen Tag –
das Leben

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