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Eiszeit in Bozen

Eiszeit in Bozen

Titel: Eiszeit in Bozen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Rueth
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ginge so unspektakulär weiter wie vorher. Was für markante
Wendepunkte hatte es in seinem Leben gegeben?
    Ein Geräusch vor der Zelle unterbrach sein Sinnieren. Albertazzi
rückte an, um ihn mit diesem Schweinefraß zu füttern. Von Tag zu Tag wurde es
später. Er war aus Sicht des Psychiaters nicht mehr als eine Belastung, ein
nervendes Ding, um das er sich kümmern musste. Komm nur, eingebildeter Dottore,
du weißt es nicht, aber das ist heute die letzte Fütterung.
    In den letzten Tagen kam Albertazzi ab und zu vorbei und schaute
durch das kleine Fenster in seine Zelle. Er schien ernstlich zu glauben, dass
er ihn nicht kommen hörte. Der Seelenklempner hatte keine Ahnung, dass diese
gruseligen Gänge das kleinste Geräusch übertrugen. Warum kam er überhaupt? War
er sich doch nicht sicher, ob sein Patient immer brav in seiner Zelle saß? Er
lachte. Wie gut, dass es der letzte Tag war.
    ***
    Sarnthein, 09.20 Uhr
    Vincenzo hatte sich noch einen großen Kaffee gemacht. Er
hatte keinen Appetit, zwang sich aber, eine Banane zu essen. Minutenlang hatte
er auf den Briefumschlag gestarrt, unfähig, ihn zu öffnen. Er wusste, dass es
seine kleine geschützte Welt danach nicht mehr geben würde. Ein Trip direkt in
die Hölle, ohne Rückfahrschein. Ihm war, als öffnete er die Büchse der Pandora.
Endlich nahm er den Umschlag, riss ihn energisch auf. Das Unvermeidliche ließ
sich nicht abwenden.
    Lieber Vincenzo, mein Freund, mein
Alter Ego!
    Ich befürchte, unser Spiel neigt sich dem
Ende zu. Ich kämpfe mit den Tränen. Wie unendlich schön es mit dir war. Du hast
mich nicht enttäuscht! Ich musste dich manchmal zur Ordnung rufen, wenn der –
verzeih die saloppe Formulierung – Gaul mit dir durchzugehen drohte. Dann hast
du dich sofort in den Griff bekommen. Das ist mehr wert, als wenn alles glatt
gelaufen wäre. Du hast Charakterstärke gezeigt. Das ist gut, denn die benötigst
du für deinen letzten Zug.
    Zunächst bin ich als Spielführer wie immer
dazu verpflichtet, den Zwischenstand zu verkünden. Deine letzte Aufgabe hast du
mit Bravour gemeistert, Vincenzo. Ein phantastischer Auftritt, man merkt den
Profi in dir. Die ganze Nacht hast du deine armen, unschuldigen Mitbürger in
euren Zellen schmoren lassen. Gerne hätte ich das – gegen eine entsprechend
höhere Punktzahl – in der »Dolomiten« gelesen, doch dafür reicht die Zeit
diesmal leider nicht. Jedenfalls führst du zu diesem Zeitpunkt klar, wie
nachfolgende Statistik eindrucksvoll belegt:
    Vincenzo Bellini: zweiundzwanzig Punkte,
eine Strafe
    Spielführer: vier Punkte
    Das ist Wahnsinn, Vincenzo. Damit hätte ich
nie im Leben gerechnet, nicht in dieser Deutlichkeit. Das ist Champions League!
Du hast meine Erwartungen bis jetzt sogar übertroffen!
    Ich bin tief betrübt, wenn ich daran denke,
dass es nun vorbei ist, dass dies wahrscheinlich der letzte Brief ist, den ich
dir schreiben darf. Ich weiß gar nicht, was ich zukünftig ohne dich machen
soll. Du hast mein Leben bereichert, lieber Vincenzo. Ich bin überzeugt,
insgeheim denkst du über mich nicht anders.
    Kommen wir nun zu deinem Spielzug. Der
bevorstehende Kälteeinbruch passt übrigens perfekt dazu, finde ich. Eine
wahrlich triumphale Dramaturgie, die uns die Natur frei Haus liefert.
    Bevor ich dir sage, was du zu tun hast,
sollte ich ein paar Erläuterungen voranstellen. Ich habe dir direkt zu Beginn
unseres Spiels gesagt, dass der eigentliche Zweck darin besteht, alle deine
Talente, deinen Charakter unter Beweis zu stellen. Es gab nur eine Möglichkeit,
dich dazu zu zwingen (ein widerliches Wort, bei dem sich mir augenblicklich die
Nackenhaare sträuben): deinen Einsatz. Ich wusste, dass du nicht nur bis an
deine Grenzen gehen würdest, um ihn zu retten, sondern darüber hinaus. Das ist
deine Berufung, Vincenzo! Sei froh, dass es jemanden gibt, der das erkannt hat.
Die Krux des Spiels ist die alles entscheidende Frage, wie weit du bereit bist,
Grenzen zu übertreten, Vincenzo, mein leuchtendes Vorbild!
    Ich nehme eines vorweg: die Punktzahl. Hast
du eine Vorstellung, wie viele Punkte du heute sammeln kannst? Soll ich es dir
sagen? 10.000! In Worten: zehntausend. Da bist du sprachlos, stimmt’s? Es böte
sich an, diese astronomische Punktezahl je nach Erfüllungsgrad auf uns zu
verteilen, doch leider geht das nicht. Es gibt nur ein Entweder-oder. Warum,
wirst du gleich verstehen. Zusätzlich zu den Punkten geht es um deinen Einsatz.
Gelingt dir dein letzter Spielzug, wird er – garantiert

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