Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eiszeit in Bozen

Eiszeit in Bozen

Titel: Eiszeit in Bozen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Rueth
Vom Netzwerk:
eingefrorenem Gesichtsausdruck am
Tisch. Er tat nichts, starrte auf das Blatt Papier. Irgendwann hob er den Kopf,
drehte ihn nach links. Dort hing in der Garderobe das Halfter mit seiner
Beretta 92, dem Neun-Millimeter-Rückstoßlader der Polizia di Stato, mit
großem Fünfzehn-Schuss-Doppelreihenmagazin. Er hatte damit noch nie auf einen
Menschen geschossen. Er mochte Waffen nicht, sie waren für ihn der allerletzte
Ausweg. In drei Stunden sollte er sie auf sich selbst richten.
    Allmählich erfasste Vincenzo, was der Spielführer von ihm verlangte. Warum trieb ein Mensch, dem er nichts getan hatte, den er
gar nicht kannte, mit ihm und Gianna ein solches Spiel? Das Gefühl, sich in
einem surrealen, kranken Traum zu befinden, war verschwunden. Jetzt spürte er
eine innere Erschlaffung, eine merkwürdige Wärme breitete sich in seinem Körper
aus, so, als schütte jemand langsam einen Krug mit heißem Wasser in ihm aus. Er
kannte so etwas aus seiner Ausbildungszeit. Wenn eine anspruchsvolle Klausur
bevorstand, war er tagelang vorher hektisch und aufgedreht. In dem Moment, in
dem die Aufgabenblätter vor ihm lagen, wich die Hektik einem Gefühl tiefer
innerer Ruhe. Und dann kam auch diese Wärme in seinem Inneren.
    Er stand auf, trat an sein Panoramafenster, die Hände hinter dem
Rücken verschränkt. Draußen bewegten sich die Bäume heftig im Wind. Blätter
wirbelten durch die Luft. Trotzdem schien die Sonne. Merkwürdige Stimmung.
    Oberrautner stellte ihn vor die Wahl: du oder Gianna. Um dieser
Perversion den nötigen Nachdruck und einen passenden Rahmen zu geben, hatte er
Giannas Haarsträhnen dazugelegt.
    Er hatte nun drei Möglichkeiten: zu tun, was Oberrautner verlangte –
unwahrscheinlich, dass ihm das gelingen würde. Gar nichts zu tun, auf ein
Wunder oder Oberrautners Nachsicht hoffen. Beides mehr als unwahrscheinlich.
Oder nach Lana zu fahren, zum Ort des geplanten Geschehens gehen, zu versuchen,
Oberrautner zu erspähen, der seinem triumphalen Finale zweifelsohne beiwohnen
wollte. Wenn er ihn sah, die Waffe ziehen, abdrücken, beten, dass er ihn traf,
dass Oberrautner überlebte, dass er unter Schmerzen und nötigenfalls unter
Anwendung weiterer Gewalt Giannas Aufenthaltsort verriet. Das wäre vermutlich
das Ende seiner Karriere bei der Polizei, wenngleich ein bescheidener Preis für
Giannas Rettung. Alle drei Möglichkeiten waren unvorstellbar. Zeit, sich etwas
anderes zu überlegen, hatte er nicht. Die kranke Kreatur hatte alles perfekt
geplant.
    Er wählte die erste Nummer.
    ***
    Lana, 10.00 Uhr
    Er hatte sich auf der Bank niedergelassen, die in ein paar
Stunden in allen Medien zu sehen sein würde. In den Tieflagen des Vinschgaus
war es trotz des starken Windes so warm, dass er bloß eine dünne Jacke trug.
Was für ein Kaiserwetter, es passte wunderbar zu dem, was bald passieren würde.
Seinen Wagen hatte er hundert Meter oberhalb der Abzweigung zum Waalweg
abgestellt. Wenn er lossprintete, war er in Sekundenschnelle dort und konnte
losfahren, bevor sie ihn erwischten.
    Er war gespannt zu erleben, wie weit die Liebe eines Menschen gehen
konnte. Bellini hatte längst begriffen, dass dieses Spiel todernst war. Daher
würde er auf jeden Fall kommen. Vielleicht schickte er noch ein paar Kollegen
oder einen Hubschrauber, um das Gebiet zu überwachen. Was würde ihm das nützen?
Er würde nie erfahren, wo sich seine Gianna befand. Die einzige Möglichkeit,
sie zu retten, war sein Tod. Das wusste Bellini. Sollten sie ihn verfolgen, ihn
vielleicht sogar fassen, er würde einfach vor sich hin lächeln, aber nichts
sagen. Kein Wort. Und während die Zeit verging, dahinkroch, Minute um Minute
verstrich, während der Sturm tobte und Giannas Überlebenschancen immer weiter
sanken, würden Bellini und die ganze Mischpoke durchdrehen. Er hätte nicht
sagen können, was ihm lieber wäre: dass Bellini sich selbst richtete, oder dass
er zu feige war und deshalb hilflos erleben musste, wie Giannas Lebenslicht
ganz langsam erlosch. Bellini würde weiterleben, aber nur noch physisch. In
Wirklichkeit war sein Leben vorbei. Ohne Sinn, voll Depressionen und
Schuldgefühle. Vielleicht wäre das die gerechtere Strafe für das, was der Spielführer durchgemacht hatte.
    Er schob sich ein Stück Schüttelbrot in den Mund. Was für eine
schöne Aussicht. Für ihn war dies das andere Südtirol, das sanfte, mediterrane.
Es stand in einem faszinierenden Kontrast zu den Bergriesen, die den Vinschgau
umgaben. Wie oft war er

Weitere Kostenlose Bücher