Eiszeit in Bozen
bereichert.
Bevor er kam, war sie zufrieden gewesen. Die Ferienwohnungen, ihr
Haushalt, die Pflege des Hofs, gelegentlich ein Kaffee mit den Frauen aus dem
Ort, nichts Aufregendes, aber ein geregelter Alltag. Bis Alois Stadler
erschien. Seitdem interessierte sie sich nicht mehr für den Hof, nicht für die
Frauen aus dem Ort, nur noch für ihn.
Jetzt verschwand er ohne Vorankündigung aus ihrem Leben, ging fort,
wie er gekommen war. Und sie empfand eine nie gekannte Einsamkeit. Wenn er doch
wenigstens ein paar Tage bleiben würde.
»Herr Stadler, das Wetter schlägt zwar um, aber auch das sind
reizvolle Stimmungen für ein Buch. Sie haben selbst gesagt, dass Sie alle
Facetten unserer schönen Heimat einfangen wollen. Außerdem wird es bald wieder
besser. Es ist noch nicht einmal November.«
Alois Stadler seufzte inbrünstig. »Frau Hofer, was meinen Sie, wie
gerne ich bleiben würde! Ihr traumhaftes Ferienhaus, diese Stille, ideal für
einen Naturkundler und Schriftsteller wie mich. Ihr Kaffee, die Stunden mit
Ihnen. Das wird mir fehlen. Doch es ist nicht das Wetter, das mich zwingt
abzureisen.«
»Ach, nicht?«
Seine Miene nahm einen sorgenvollen Ausdruck an. »Nein, Frau Hofer,
leider nicht. Ich habe heute Morgen einen traurigen Anruf aus München bekommen.
Mein Bruder hatte einen schweren Schlaganfall, liegt auf der Intensivstation.
Es sieht nicht so aus, als käme er durch. Ich möchte sofort zu ihm.«
Entsetzt sah sie ihn an. »O mein Gott, das ist fürchterlich!
Wie alt … ich meine, haben Sie ein gutes Verhältnis … war er schon länger
krank?«
»Er ist vierundvierzig, Frau Hofer, vier Jahre jünger als ich. Nein,
es gab keine Anzeichen. Ja, wir haben ein sehr inniges Verhältnis. Ich muss
los, das werden Sie verstehen. Das restliche Geld behalten Sie bitte. Werten
Sie es als Zeichen meiner Wertschätzung Ihnen und Ihrer Gastfreundschaft
gegenüber.«
Was für ein Pech. Das Wetter war ihm egal, aber sein Bruder hatte
einen Schlaganfall. Ausgerechnet jetzt. Das Schicksal meinte es nicht gut mit
ihr. Sie musste ihm das Versprechen abringen wiederzukommen. »Das Geld ist mir
nicht wichtig, Herr Stadler. Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Sie kommen
wieder, und wir rechnen den gesamten Rest darauf an. Damit möchte ich Ihnen
zeigen, was für ein angenehmer Gast Sie waren.«
Alois Stadler lächelte. »Vielen Dank, Frau Hofer, Sie sind eine
überaus charmante Gastgeberin. Ich verspreche Ihnen wiederzukommen, mein Buch
ist nämlich noch lange nicht fertig.« Er verabschiedete sich formvollendet mit
einer Verbeugung und einem angedeuteten Handkuss, stieg ins Auto und fuhr von
ihrem Hof. Sekunden später war er um die nächste Kurve verschwunden. Sie kam
sich vor wie in der Schlussszene eines romantischen Rosamunde-Pilcher-Films.
Sie sah selten fern, aber wenn so etwas lief, saß sie regelmäßig vor dem
Fernseher, eine Packung Taschentücher neben sich.
***
Sarnthein, 09.00 Uhr
Pünktlich und mit zitternder Hand öffnete Vincenzo seinen
Briefkasten. Er hatte nach Oberrautners Anruf kein Auge mehr zugetan.
Inzwischen war seine Angst auch körperlich spürbar. Er fror und schwitzte
abwechselnd, seine Beine waren wie Gummi, immer wieder wurde ihm schwarz vor
Augen. Seine Hände waren so schwach, dass er die Tasse mit beiden Händen
umfassen musste, damit kein Kaffee überschwappte. Jegliche Kraft war aus ihm
gewichen.
Als ihm der Brief weiß entgegenleuchtete, hielt er einen Moment
inne. Hinter ihm raste der Wind über den Pass herunter, und als Vincenzo sich
umdrehte, schlug ihm eine Sturmböe entgegen. Alle umliegenden Gipfel waren in
dicke grauweiße Wolkentürme gehüllt, die sich – man konnte es mit bloßem Auge
sehen – schnell nach oben hin ausdehnten. Es war zwar noch mild, über fünfzehn
Grad, aber der Wind hatte seit dem Vorabend seine Richtung geändert, fühlte
sich bereits kalt an. Kein Vogelgezwitscher war mehr zu hören. Getrieben von
ihrem untrüglichen Instinkt, hatten die Tiere rechtzeitig Schutz gesucht.
Mit der Windböe in seinem Gesicht war sie wieder präsent, diese
merkwürdige Ahnung, die sich in einer Wettererscheinung manifestierte. Diesmal
schaffte er es nicht, sich von diesem Gefühl zu befreien. Er nahm den Brief
heraus, tastete ihn ab. Da war mehr drin als ein Blatt Papier, etwas Weiches,
Dickeres. Vincenzo sah sich nach allen Seiten um. Als ob Oberrautner irgendwo
stünde, um ihn höhnisch auszulachen! Nein, niemand war auf der Straße, alle
Sarntaler hatten sich in
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