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Eiszeit in Bozen

Eiszeit in Bozen

Titel: Eiszeit in Bozen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Burkhard Rueth
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ihre Häuser zurückgezogen, um auf das angekündigte
Inferno zu warten. Aus einigen Schornsteinen stieg Rauch. Schwerfällig stapfte
Vincenzo die Treppenstufen empor und schlurfte in seine Wohnung.
    ***
    Bozen, 09.05 Uhr
    Sabine Mauracher hatte die ganze Zeit wach gelegen und dem
Rauschen des Windes gelauscht. Sie musste unentwegt an den armen Commissario
denken. In was für einen Horror er geraten war! Dabei war er so sensibel,
gutherzig und einfühlsam. Manchmal machte er zwar einen auf cool, ließ den
Macho raushängen, aber das taten letztlich alle Männer. Bellini hingegen hatte
zugleich diese sanfte, melancholische Seite. War stundenlang allein in der
Natur unterwegs. Nicht etwa mit dem Mountainbike oder zum Speedklettern,
Canyoning oder Snowboarding, nein, er ging wandern. Manchmal joggte er ein
bisschen oder machte Krafttraining. Mit nicht einmal vierzig.
    Eigentlich gähnend langweilig, normalerweise wäre er absolut nicht
ihr Typ. Aber er hatte so etwas Tiefgründiges, Sensibles. Und außerdem sah er
verdammt gut aus. Bei diesem durchtrainierten Body hätte man sich bei ihm auch
solche Extremsportarten bestens vorstellen können.
    Sie kicherte in sich hinein. Im Unterschied zu ihr, die aussah wie
ein zartes Püppchen, das keinem Windhauch standhielt. Sie hatte längst gemerkt,
dass der Commissario sie für schwächlich hielt und ihr keine großen
körperlichen Belastungen auferlegen wollte. Auf die Idee, dass sie eine
hervorragende und sehr ausdauernde Sportlerin war und gerade diese
anspruchsvollen Sportarten mit Begeisterung betrieb, wäre er wohl im Leben
nicht gekommen. Jede freie Minute nutzte sie dafür. Schon als Kind hatte sie
einen unbändigen Bewegungsdrang, den sie vermutlich vom Großvater geerbt hatte,
der ihr großes Vorbild war. Ihr Opa Winnie war zwar im flachen Berlin geboren,
aber ein ausgezeichneter Bergsteiger und großartiger Sportler. Er hatte sie
häufig mit in die Berge genommen, von ihm hatte sie sich alles abgeschaut,
sogar die Art zu reden, die Ausdrucksweise. Manchmal berlinerte sie so sehr,
dass niemand sie für eine Südtirolerin hielt.
    Am meisten faszinierte sie Eisklettern. Was für ein irres Gefühl,
eine senkrechte oder, noch krasser, überhängende Eiswand hochzuklettern. Am
liebsten auf Zeit, schnell, immer schneller. Für sie war der Sport eine Droge.
Sie konnte nichts dafür, dass die Natur ihr zwar Zähigkeit, aber keine dicken
Muskeln geschenkt hatte.
    Weil sie keine Lust mehr hatte, untätig im Bett zu liegen, war sie
bereits um fünf aufgestanden und hatte sich eine Tasse Tee gekocht. Dieser Fall
ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Oberrautner, ein Junkie, der Fantasy-Romane
schrieb, sollte einem Menschen mit bloßer Hand das Genick gebrochen,
möglicherweise Gianna einen Berg hinaufgeschleppt und sich so ein abartiges
Spiel ausgedacht haben? Und bloß, weil er ein paar Monate im Knast gesessen
hatte? Um sich für diese Lappalie zu rächen? Indizien hin, Indizien her, sie
konnte sich das nicht vorstellen. Da musste jemand anderes dahinterstecken.
Wenn es nicht dieser Durchgeknallte in der Klapsmühle sein konnte, musste es
sich um einen bis dato Unbekannten handeln. Und der würde in ein paar Stunden
einen Spielzug von Bellini verlangen, der
undurchführbar war. Damit wäre der arme Kerl am Ende. Das Einzige, das ihn noch
retten konnte, wäre, wenn er seine Gianna zurückbekam.
    Ihr Opa hatte ihr mehr als einmal von dieser Stadt im Eis erzählt.
Sie war eine seiner Leidenschaften. Lustig, dass sie die ganze Geschichte nie
geglaubt hatte, dabei gab es das tatsächlich. Diese Geschichte von der
Marmolata und ihrem Gletscher. Ganze Bergkuppen hatten sie weggesprengt, um die
Feinde, die unten waren, unter einem gewaltigen Steinschlag zu begraben.
Bescheuert, was sich Menschen alles einfallen ließen, um sich gegenseitig zu schaden.
    Sie stand auf, trat auf ihren kleinen Balkon. Was für ein Wind. Wie
ungewöhnlich mild es war. Als es zu dämmern begann, konnte sie sehen, wie von
den Sarntalern her allmählich dunklere Wolken aufzogen. Noch war es lediglich
eine lockere Haufenbewölkung, aber bald würde es zur Sache gehen. Das war ganz
ihr Ding, richtig wild und gefährlich, so etwas liebte sie. Ihr Opa hatte viel
von der Marmolata gesprochen, was dieser Handl alles in den Gletscher gebaut
hatte. Aber es ging nicht nur um die Marmolata. Bei der zweiten Tasse Tee
erinnerte sie sich. Es gab noch andere, ähnlich irrsinnige Geschichten aus
diesem skurrilen

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