Eiszeit in Bozen
habe, ist es
wahrscheinlich zu spät, dann kommt niemand mehr an sie ran. Bring sie
wenigstens an einen sicheren Ort.« Der Spielführer schwieg lange. »Hallo, Oberrautner? Bist du noch da?«
»Wie hast du mich gerade genannt, Vincenzo?«
Verdammt, das war ihm herausgerutscht. Ein dummer Fehler. Ihm blieb
nichts anderes übrig, als dazu zu stehen. »Natürlich wissen wir, wer du bist.
Aber was ändert das schon? Es geht um dich und mich, nicht um Gianna.«
»Ich habe diese Möglichkeit ernsthaft in Betracht gezogen, lieber
Vincenzo. Aber ich habe mich dagegen entschieden. Mir ist die Gefahr zu groß,
dass mir jemand folgt. Euch ist alles zuzutrauen. Aber mach dir keine Gedanken,
Vincenzo, mein Held, ich habe alles im Griff. Mach du deinen Zug, über den wir
gleich noch kurz sprechen, den Rest erledige ich. Verzeihung, erledigen trifft
es natürlich nicht.« Vincenzo vernahm ein leises Lachen. »Den Einsatz
zurückbringen, das beschreibt es besser. Ich weiß genau, was ich tue. Und da
kann mich kein noch so schlimmes Wetter aufhalten. Bitte geh morgen früh um
neun Uhr an deinen Briefkasten, Vincenzo, dann findest du die Anweisungen für
deinen letzten Spielzug, für das große Finale. Von dem Zeitpunkt, wenn du den
Brief öffnest, bis zur möglichen Rückkehr deines Einsatzes nach Bozen dauert es
zwölf Stunden. Zum heutigen Abschluss habe ich ein kleines Rätsel für dich. Du
hast mich Oberrautner genannt, weil du weißt, dass ein Mann dieses Namens
verschwunden ist. Preisfrage: Wie viele konkrete Hinweise auf mich hast du
gefunden, mein Freund? Bist du dir deiner Sache wirklich sicher? Bin ich
wirklich dieser Oberrautner – oder doch nicht? Falls du nicht mehr einschlafen
kannst, lenkt dich diese Frage ein bisschen ab. Bis morgen, mein geliebter
Freund, ich freue mich!«
19
Im Gletscher, Sonntag, 17. Oktober, 06.30 Uhr
Unruhig lief sie auf und ab. Seit ein paar Stunden, oder
auch weniger, sie wusste es nicht genau, waren von überall her neue Geräusche
zu hören. Es pfiff, rauschte, knarrte, ächzte, hallte leise, aber ständig durch
die Gänge und Höhlen. Es war gleichermaßen unheimlich wie faszinierend.
Wie spät es wohl war? Mittag? Er hatte gesagt, dass dann der Sturm
losbrach. Waren das die Geräusche? War das Unwetter bis in diese Unterwelt zu
spüren? Und wieso ließ Vincenzo sie dermaßen hängen, was hatte sie ihm bloß
getan? Liebte er sie denn gar nicht?
Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie hatte fest daran geglaubt,
dass es die große Liebe zwischen ihnen war, und jetzt ließ er sie im Stich,
sein Fall war ihm wichtiger als seine Freundin. All seine Liebesschwüre, sein
angeblicher Kinderwunsch, sein Drängen, zusammenzuziehen, zu heiraten, alles
nichts als leere Phrasen. Inzwischen war sie fest davon überzeugt, dass ihr
Entführer sie nicht anlog, er hatte ja auch überhaupt keinen Grund dazu. Er
wollte Geld, das war alles. Und wenn das Lösegeld gezahlt worden wäre, dann
wäre sie längst hier heraus. Wer sonst als Vincenzo sollte an dieser
unerträglichen Verzögerung schuld sein? Nie hätte sie gedacht, dass er sie so
bedenkenlos in Gefahr bringen würde.
Dass ihr Entführer ihr nichts antun wollte, war mittlerweile klar.
Sonst hätte er sich nicht auf so persönliche Gespräche mit ihr eingelassen. Zu
gern hätte sie gewusst, wie er aussah unter seiner unbequemen Maske, die er
allein zu ihrem Schutz trug. Seine Stimme war sanft, tief, melodisch. Sie
könnte ihm stundenlang zuhören. Nein, dieser Mann log sie nicht an. Ihr eigener
Freund hinderte ihre Eltern daran, ein Lösegeld zu zahlen, weil er auf seine
berufliche Karriere bedacht war. So sah es aus.
Sollte sie doch noch vor dem großen Sturm hier herauskommen, obwohl
kein Geld geflossen war, geriete Vincenzo in Erklärungsnot. Wenn er sie nicht
überzeugen konnte, dass er nur zu ihrem Besten gehandelt hatte, dann war sie
die längste Zeit seine Freundin!
***
St. Pankraz, 08.00 Uhr
Maria Hofer war fassungslos. Alois Stadler stand vor ihrer
Tür, um ihr mitzuteilen, er müsse abreisen. Sie hatte natürlich schon ein
bisschen damit gerechnet, angesichts des angekündigten Wettersturzes, der die
Berge in diesem Jahr frühzeitig unpassierbar machen würde. Seit Stunden pfiff
ein Wind, der nicht normal war. Morgen um diese Zeit war ihr Hof wahrscheinlich
eingeschneit. Bis zuletzt hatte sie gehofft, dass er trotzdem bleiben würde. Er
war in ihr Leben getreten und hatte es, ohne das zu beabsichtigen, auf
wunderbare Weise
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