Eiszeit
lag in einem Bett, auf Kissen gestützt, so zerbrechlich wie eine Frau, die hundert Jahre des Lebens gesehen hatte. »Es ist nicht schlimm«, sagte sie zu Gorow. Ihre Stimme war trotz der furchtbaren Krankheit, die ihren Körper verwüstet und geschwächt hatte, musikalisch und hell. »Sie werden ihn wiedersehen. Er ist jetzt im Himmel. Er wartet dort auf Sie.«
Nikita Gorow, Produkt einer strikt materialistischen Gesellschaft, die fast ein ganzes Jahrhundert lang die Existenz Gottes bestritten hatte, wünschte, er könne genug Kraft in einem Glauben finden, der so einfach und stark wie der war, den die Worte des Kindes enthüllt hatten. Er war kein Atheist. Er hatte gesehen, welche monströsen Taten die Herrscher einer Gesellschaft begehen konnten, wenn sie der Annahme waren, es gäbe keinen Gott; er wußte, daß es keine Hoffnung auf Gerechtigkeit in einer Welt gab, in der die Vorstellungen von göttlicher Vergeltung und eines Lebens nach dem Tod abgeschafft worden waren. Gott mußte existieren, denn ansonsten konnte man die Menschheit nicht daran hindern, sich selbst zu vernichten. Dennoch mangelte es ihm an einem überlieferten Glauben, in dem er in einem solchen Ausmaß Hoffnung und Zuversicht finden konnte, wie es bei dem im Sterben liegenden Mädchen der Fall war.
Anja hatte an seiner Schulter geweint. Er hatte sie festgehalten und ihr blondes Haar gestreichelt.
Der dunkle Himmel war plötzlich aufgerissen und hatte einen Wolkenbruch freigegeben. Dicke Tropfen waren gegen das Fenster geschlagen, die Scheibe hinabgeströmt und hatten den Verkehr unten auf dem Platz verschwommen wirken lassen.
Den restlichen Sommer über hatten sie versucht, Dinge zu finden, über die sie lächeln konnten. Sie waren ins Taganka-Theater, ins Ballett, ins Variete und in den Zirkus gegangen. Sie hatten mehr als einmal in dem großen Pavillon im Gorki-Park getanzt und erfreuten sich, wie es sonst nur Kinder konnten, an den Attraktionen des Freizeitparks Sokolniki. Einmal die Woche aßen sie im Aragvi, vielleicht dem besten Restaurant der Stadt, wo Anja wieder zu lächeln lernte, als sie an der Eiscreme mit Konfitüre schleckte, wo Nikita eine Vorliebe für das scharfe Zatsivi- Hühnchen in Walnußsauce entwickelte, und wo sie beide zu viel Wodka zu ihrem Kaviar und zu viel Wein zu ihrem Sulguni mit Brot tranken. Sie schliefen jede Nacht miteinander, dringlich und explosiv, als würde ihre Leidenschaft die Existenz von Leid, Krebs und Tod widerlegen.
Obwohl Anja nicht mehr so unbeschwert wie zuvor war, schien sie sich von dem Verlust schneller und besser zu erholen als Nikita. Zum einen war sie vierunddreißig, zehn Jahre jünger als er. Ihr Geist war widerstandsfähiger als der seine. Desweiteren wurde sie nicht von der Schuld belastet, die er wie ein Joch aus Blei trug. Er wußte, daß Nikki in den letzten Wochen seines Lebens und besonders während der letzten Stunden immer wieder nach ihm gefragt hatte. Obwohl er wußte, daß er sich töricht und irrational verhielt, kam Gorow sich vor, als hätte er den Jungen im Stich gelassen, als hätte er seinem einzigen Sohn nicht beigestanden. Trotz ihres ungewöhnlich langen, nachdenklichen Stillschweigens und eines neuen Ernstes in ihren Augen bekam Anja allmählich ein gesundes Strahlen und zumindest einen Großteil ihres früheren Elans zurück. Doch Nikita täuschte die Genesung nur vor.
In der ersten Septemberwoche nahm Anja ihren Beruf wieder auf. Sie war Forschungsbotanikerin in einem großen Außenlabor in den tiefen Kiefernwäldern dreißig Kilometer außerhalb von Moskau. Ihre Arbeit wurde schnell zu einer Straße ins Vergessen: sie fuhr jeden Tag ein Stück weiter darauf, traf früh im Labor ein und blieb immer länger dort.
Obwohl sie auch weiterhin die Nächte und Wochenenden gemeinsam verbrachten, war Gorow jetzt viel allein. Die Wohnung war voller Erinnerungen, die schmerzlich geworden waren, und das galt auch für die Datscha, die sie auf dem Land gemietet hatten. Er ging oft und lange spazieren, und fast jedesmal endete er im Zoo oder im Museum oder an irgendeinem anderen Ort, den er und Nikki häufig gemeinsam besucht hatten.
Er träumte unablässig von seinem Sohn und wachte normalerweise mitten in der Nacht mit einem üblen, leeren Gefühl auf. In seinen Träumen fragte Nikki stets, warum sein Vater ihn im Stich gelassen hatte.
Am achten Oktober ging Gorow zu seinem Vorgesetzten im Marineministerium und bat darum, ihm wieder das Kommando über die Ilja Pogodin
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