Eiszeit
wissen.
Okudschawa zögerte. Dann: »Es kann jederzeit zu Ende gehen.«
Seit er vor siebenunddreißig Stunden in seiner Kabine an Bord der Ilja Pogodin die verschlüsselte Nachricht gelesen hatte, hatte Gorow gewußt, daß Nikki im Sterben liegen mußte. Die Admiralität war nicht grausam, hätte andererseits aber auch niemals eine wichtige Spionagemission auf der Mittelmeerroute unterbrochen, wäre die Lage nicht ziemlich hoffnungslos gewesen. Er hatte sich sorgfältig auf diese Nachricht vorbereiten können.
Im Krankenhaus waren die Fahrstühle ausgefallen. Boris Okudschawa führte Gorow zur Personaltreppe, die schmutzig und schlecht beleuchtet war. Fliegen summten vor den kleinen, vor Schmutz undurchsichtigen Fenstern an jeder Treppenbrüstung.
Gorow stieg zum sechsten Stock hinauf. Er blieb zweimal stehen, als er den Eindruck hatte, seine Knie würden nachgeben, eilte dann aber beide Male nach nur kurzem Zögern weiter.
Nikki lag mit vier weiteren sterbenden Kindern in einem Achtbettzimmer, in einem kleinen Bett unter einer schmutzigen und geflickten Decke. Neben ihm stand weder ein EKG-Überwachungsgerät noch irgendein anderes Instrument. Da er als unheilbar krank galt, hatte man ihn auf dieses Sterbezimmer verlegt, in dem er die letzten Tage auf dieser Welt verbringen sollte. Die Regierung hatte noch immer die Leitung der medizinischen Versorgung inne, und ihre finanziellen Möglichkeiten waren schlicht und einfach erschöpft. Das hatte zur Folge, daß die Ärzte alle Kranken und Verletzten nach dem unbarmherzigen Maßstab der Überlebenschancen behandelten. Wenn diese nicht mindestens fünfzig Prozent betrugen, unternahm man erst gar keinen heldenhaften Versuch, den Patienten zu retten.
Der Junge war schrecklich bleich. Wächserne Haut. Grau gefärbte Lippen. Die Augen geschlossen. Sein blondes Haar war strähnig und feucht vor Schweiß.
Gorow fiel es zunehmend schwerer, die traditionelle Ruhe eines U-Boot-Kommandanten zu bewahren. Zitternd, als wäre er ein alter Mann mit einer Lähmung, trat er neben das Bett und schaute zu seinem Sohn hinab, seinem einzigen Kind.
»Nikki«, sagte er, und seine Stimme war unbeständig und schwach.
Der Junge antwortete nicht, öffnete nicht einmal die Augen.
Gorow setzte sich auf die Bettkante. Er legte eine Hand auf die seines Sohnes. Die Haut des Jungen kam ihm furchtbar kalt vor.
»Nikki, ich bin hier.«
Jemand berührte Gorows Schulter, und er blickte auf.
Ein Arzt in einem weißen Kittel stand neben dem Bett. Er deutete auf eine Frau am Ende des Zimmers. »Sie ist diejenige, die Sie jetzt braucht.«
Es war Anja. Gorow hatte sich so stark auf Nikki konzentriert, daß er sie gar nicht bemerkt hatte. Sie stand an einem Fenster und tat so, als beobachte sie die Leute unten auf dem alten Kalinin-Platz.
Allmählich wurde Gorow sich der Niederlage bewußt, die die gekrümmten Schultern seiner Frau und der leise Anflug von Trauer in der Neigung ihre Kopfes ausdrückten, und langsam wurde ihm die volle Bedeutung der Worte des Arztes klar. Nikki war schon tot. Zu spät, um ein letztes Mal ›Ich liebe dich!‹ zu sagen. Zu spät für einen letzten Kuß. Zu spät, um seinem Kind in die Augen zu sehen und ›Ich war immer so stolz auf dich!‹ zu sagen, zu spät, um sich zu verabschieden.
Obwohl Anja ihn brauchte, ertrug er es nicht, sich von der Bettkante zu erheben — als würde er damit bewirken, daß Nikki endgültig tot war, wohingegen ein starrköpfiges Leugnen schließlich eine wundersame Wiederauferstehung bewirken könnte.
Er sprach ihren Namen, und obwohl es nur ein Flüstern war, drehte sie sich zu ihm um.
Ihre Augen waren feucht vor Tränen. Sie biß sich auf die Lippe, um nicht laut zu schluchzen. »Ich wünschte, du wärest hiergewesen.«
»Sie haben es mir erst gestern gesagt.«
»Ich war so allein.«
»Ich weiß.«
»Hatte solche Angst.«
»Ich weiß.«
»Ich wäre an seiner Stelle gegangen, wäre es möglich gewesen«, sagte sie. »Aber ich konnte ... ich konnte nichts für ihn tun.«
Schließlich fand er die Kraft, das Bett zu verlassen. Er ging zu seiner Frau und umarmte sie, und sie umarmte ihn. So fest. So fest.
Alle bis auf eins der vier anderen sterbenden Kinder in diesem Raum lagen im Koma, standen unter Beruhigungsmitteln oder nahmen Gorow und Anja aus irgendwelchen anderen Gründen nicht wahr. Die einzige Beobachterin war ein Mädchen von vielleicht acht oder neun Jahren, mit kastanienbraunem Haar und großen, ernsten Augen. Sie
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