Ekel / Leichensache Kollbeck
den riesigen Berliner Stadtforst. Die höchste natürliche Erhebung Berlins bietet aus einer Höhe von 115 Meter über dem Meeresspiegel einen imposanten Rundblick über das seenreiche Köpenick.
Als die Dämmerung hereinbricht und der Horizont mit dem Dunkel des Himmels zu verschmelzen beginnt, bezwingen immer noch einige Neugierige die knapp einhundert Stufen zur Aussichtsplattform.
Doch niemand bemerkt die kleine, junge Frau im lindgrünen Anorak mit dem blassen Gesicht, die bereits seit einer Stunde unbeweglich dort in der Höhe ausharrt. Ihre Augen scheinen in der Weite der herbstlichen Abendlandschaft einen Punkt zu fixieren. Doch ihr Blick ist leer, auf das scheinbar Unendliche gerichtet. Nur hinter ihren pochenden Schläfen arbeitet ein waches Hirn und läßt ungeordnet, episodenhaft ihr Leben im Zeitraffer vorübereilen. Ihr Entschluß ist unumstößlich. Keinen Schritt will sie zurückweichen. Ihre eingeengte Gedankenwelt erfaßt nur einen einzigen Punkt: Dieses Leben hat seinen Sinn verloren!
Selbst als die Nacht hereinzubrechen beginnt und die letzten Besucher den Turm schon lange verlassen haben, verharrt die junge Frau weiter in der gleichen Erstarrung. Es sind die letzten Minuten ihres Lebens. Sie blickt noch einmal in die Tiefe, als wolle sie sich vergewissern, daß niemand ihr Vorhaben stören kann.
Ruhig und gefaßt klettert sie nun auf die Brüstung, hält, auf dem schmalen Sims hockend, einen Augenblick inne, ehe sie sich langsam nach vorn kippen läßt. Lautlos stürzt sie in die Tiefe. Ein gewaltiger dumpfer Aufschlag folgt. Dann ist Stille. Reglos liegt der Körper auf dem steinernen Terrassenboden unterhalb des Turms. Die Wucht des Aufpralls hat den sofortigen Tod verursacht. An verschiedenen Stellen ist die Bekleidung aufgeplatzt. Langsam schiebt sich etwas Blut aus dem zerschmetterten Schädel und bildet mit dem herausquellenden, zerrissenen Hirngewebe eine kleine dickflüssige Lache.
Wenig später entdecken zwei Liebende den Leichnam der jungen Frau. Ihre Absicht, den Müggelturm für ungestörte Zärtlichkeiten zu nutzen, wird jäh vereitelt. Das Entsetzen treibt sie zum nächsten Telefon, der Notruf ist gebührenfrei.
Ein Arzt der Schnellen Medizinischen Hilfe stellt den Tod fest. Die Funkleitstelle informiert den Bereitschaftsdienst der Kriminalpolizei im Polizeipräsidium am Alexanderplatz. Eine viertel Stunde später knattert ein polizeieigener „Trabant“ in Richtung Müggelseeturm. Am Steuer sitzt Hauptmann der K Jens Rinke, ein schlanker Endvierziger mit schütterem Haar, seit vielen Jahren sogenannter Leichensachbearbeiter bei der Berliner Kriminalpolizei. Er steht einer siebenköpfigen Mannschaft mit der Bezeichnung „Arbeitsgruppe Unnatürlicher Tod“ vor, die sich mit der Untersuchung von tödlichen Unfällen, Suiziden, Todesfällen mit unklarer Todesart, aber auch mit der Identifizierung unbekannter Toter beschäftigt. Jährlich müssen er und seine Mitstreiter etwa eintausend verdächtige Todesfälle untersuchen, die sich allein im Berliner Stadtgebiet zugetragen haben.
Rinke parkt den „Trabbi“ neben dem Fahrzeug des Notarztes und dem Funkstreifenwagen. Der Arzt, die beiden Spaziergänger, die den Leichnam gefunden hatten, und die den Ort des Geschehens absichernden Polizisten erwarten ihn bereits. „Schrecklich, so ’ne junge Frau! Eigentlich bin ich hier fertig“, begrüßt ihn der Arzt, blickt nach oben in Richtung der vermuteten Absprungstelle und setzt fort: „Sie hat sich offensichtlich von da oben herabgestürzt.“
„Hm, schon möglich“, entgegnet Rinke und betrachtet die Tote mit geübtem Blick. „In Ordnung, ich mache hier weiter, wenn Sie so freundlich sind, den Bestattungsdienst zu informieren.“ Mit der Bemerkung „Klar doch, ich muß schon zum nächsten Einsatz“, übergibt der Arzt den Totenschein. Doch ehe er sich verabschiedet, überfliegt der Kriminalist das Dokument, erfaßt das Wichtigste: Unbekannte weibliche Person, nichtnatürlicher Tod, Sturz aus der Höhe, schweres Schädel-Hirn-Trauma, Tod durch inneres Verbluten, Antrag auf gerichtsmedizinische Autopsie.
Nach der Anordnung über die ärztliche Leichenschau der DDR war jede menschliche Leiche unverzüglich nach Eintritt des Todes durch einen Facharzt (alle Fachrichtungen und Ärzte in der Facharztausbildung, außer Zahnärzte) zu besichtigen und zu untersuchen. Ziel war – neben der Identifizierung des Leichnams – die Feststellung des Todes, der Todeszeit, der Todesart
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