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Ekel / Leichensache Kollbeck

Ekel / Leichensache Kollbeck

Titel: Ekel / Leichensache Kollbeck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Girod
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„nichtnatürlichen Tod (Unfall, Selbsttötung, durch andere verursachter Tod), unklare Todesart oder Auffindung des Leichnams eines Unbekannten“ und legte fest, daß für deren Bearbeitung ausschließlich die Untersuchungsorgane zuständig waren. Derartige Todesfälle wurden daher grundsätzlich nur durch geschulte sog. Leichensachbearbeiter oder Morduntersuchungskommissionen der Kriminalpolizei untersucht. Spezielle Maßnahmen, wie staatsanwaltliche Leichenschau, gerichtsmedizinische Obduktion, Exhumierung von Leichen und Urnenöffnung sowie die formellen und inhaltlichen Anforderungen an die Vorgangsbearbeitung, wurden durch entsprechende interne Anweisungen des Generalstaatsanwalts und des Innenministeriums geregelt. Dies alles gewährleistete eine nahezu lückenlose Aufdeckung und Aufklärung der vollendeten Suizide.
    Während also die Qualität der kriminalistischen Untersuchung von Selbstmorden in der DDR durchaus über dem üblichen internationalen Standard gelegen haben dürfte, fehlte im staatlichen Gesundheitswesen lange Jahre ein einheitliches Konzept der Suizidprophylaxe. Nur langsam setzten sich die Bemühungen einiger namhafter Psychiater, Philosophen und Gesundheitspolitiker um theoretische Grundpositionen und einheitliche Behandlungsstrategien durch. Noch im Jahre 1967 beklagten sie, daß die Suizidprophylaxe in der DDR viel zu sporadisch betrieben würde.
    Aber erst Anfang der 80er Jahre nahmen führende Ärzte und Philosophen offiziell zur Psychohygiene in der sozialistischen Gesellschaft Stellung, die als Bestandteil des Gesundheitsschutzes mehr Aufmerksamkeit verdiene. In diesem Zusammenhang warfen sie die Frage auf, wie man dem Trend der Entwicklung suizidalen Verhaltens entgegenwirken könne und formulierten die vorsichtige Forderung nach einer Abkehr von bisherigen Denkweisen:
    „Gesellschaftliches Eigentum an den Produktionsmitteln, prinzipielle Übereinstimmung von persönlichen und gesellschaftlichen Interessen, politisch-moralische Einheit des Volkes, Gesundheitsschutz als gesamtgesellschaftliche Aufgabe stellen das Suizid-Phänomen im Sozialismus auf eine neue gesellschaftliche Grundlage … Der Herausbildung von sozialistischer Kollektivität und Leitungstätigkeit liegen allgemeine und für sie spezifische Entwicklungsgesetzmäßigkeiten der sozialistischen Gesellschaft zugrunde. Ihre bewußte Verwirklichung unter der Führung der Partei der Arbeiterklasse löst das Suizidproblem nicht spontan, nicht im Selbstlauf und macht spezielle medizinisch-psychohygienische Maßnahmen nicht überflüssig …“
    Doch es vergingen noch einige Jahre, ehe sich eine wirkliche Veränderung andeutete. Ein wichtiger Impuls für die langsame Abkehr von der bisherigen Tabuisierung ging von den 5. Erfurter Fortbildungstagen der klinischen Psychologen im November 1984 aus. Dort wurde vorgeschlagen, versuchsweise der Öffentlichkeit anonyme Telefonberatungen anzubieten. Mit Unterstützung einiger Journalisten, besonders der „Berliner Zeitung“, gelang es schließlich zwei Jahre später, in mehreren Großstädten die sogenannten Telefone des Vertrauens zu etablieren.
    Das war ein erstes Zeichen des behutsamen Offenlegens eines jahrzehntelang der Öffentlichkeit verschwiegenen gesellschaftlichen Problems. Jedoch: statistische Angaben über die Suizidsituation im Lande blieben auch weiterhin unter strengem Verschluß.

Freier Fall
    Berlin, Sonnabend, 19. Oktober 1985.
    Erst gegen Mittag hört es auf zu nieseln. Allmählich weichen die bedrohlichen dunklen Wolkenfetzen am Himmel einem gleichmäßigen Hellgrau. Schon am Nachmittag ist von der Nässe nichts mehr übrig. Nun ist die Luft trocken. Doch es ist kühl geworden. Unaufhaltsam zieht sich der Sommer zurück. Die Herbstferien haben begonnen. Viele Unentwegte zieht es hinaus in das ausgedehnte Waldgebiet rund um den Müggelsee, begierig, das letzte Grün dieses Jahres zu erheischen. Schon bald findet der erschöpfte Wanderer keinen Platz mehr im Terrassencafé am Müggelturm. Das schlichte Holzschild am Eingang mit der Aufschrift „Sie werden plaziert!“ bremst sein kulinarisches Verlangen. Herzlos fordert die volkseigene Gastronomie die Geduld der Gäste heraus.
    Einige Beharrliche haben bereits artig vor der hölzernen Autorität in Reih und Glied Aufstellung genommen. Andere wenden sich verärgert ab. Lieber erklimmen sie die Aussichtsplattform des nahen Müggelturms und genießen anstelle des dünnen Kaffees den weiten, beruhigenden Blick über

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