Ekel / Leichensache Kollbeck
klassizistischen Bauwerken und Bürgerhäusern. Trotzdem spielt das Städtchen zu DDR-Zeiten touristisch keine Rolle.
Die mehrfachen Auflagen des offiziellen Reiseroutenatlas, der die landeskundlich interessantesten Wegstrecken zwischen der Insel Rügen und dem Thüringer Wald beschreibt, klammert Zeitz beharrlich aus. Zwar kennen die vermehrungsfreudigen DDR-Bürger Zeitz durch die Kinderwagenproduktion, doch ihr sonstiges Interesse an dieser Stadt ist gering, denn die giftigen Ausdünstungen und Abwässer der großen Chemiewerke zwischen Halle, Leipzig und Zeitz haben die Region bereits dauerhaft ramponiert. Zeitz bleibt lange Zeit eine Stadt ohne gebührende Beachtung.
Im Sommer 1976 ändert sich die Situation. Ein tragisches Ereignis rückt die Stadt jäh in den Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit. Es ist ein Geschehen, das nicht nur einen Prozeß interner Auseinandersetzungen innerhalb der protestantischen Kirchenleitungen entfacht. Es erneuert auch die Konfrontation zwischen Kirche und Staat und löst obendrein in den Medien, aber auch in der Gesellschaft, höchst unterschiedliche Reaktionen aus.
Es ist Mittwoch, der 18. August. Der himmelblaue Morgen leitet einen sonnenfreundlichen Tag ein. Im Pfarrhaus von Rippicha, dem kleinen Ortsteil von Droßdorf, wenige Kilometer südlich von Zeitz, beendet der Pfarrer Oskar Brüsewitz, 47, das gemeinsame Frühstück mit seiner Gattin und meint, es wäre nun Zeit, in die Stadt zu fahren. Was er dort will, bleibt zunächst unbekannt. Er verhält sich ruhig, gefaßt, unauffällig. Bevor er kurz vor 10.00 Uhr das Haus verläßt, stellt er noch frische Rosen in der Wohnung auf. Dann geht er zur nahegelegenen Kirche. Dort hat er, bereits Tage zuvor heimlich gefertigt, Plakate und ein zweiteiliges Transparent deponiert. Er verstaut diese in seinem Pkw „Wartburg-Kombi“, in dem sich bereits eine mit Benzin gefüllte 20-Liter-Milchkanne befindet. Pfarrer Brüsewitz streift den Talar über und fährt sodann in Richtung Zeitz davon.
Kurz vor 10.30 Uhr parkt er seinen Wartburg nahe der Fußgängerzone auf dem Michaelis Kirchhof in der Zeitzer Oberstadt, unmittelbar vor dem Portal der Michaeliskirche. Eilig stellt er seine Plakate und die beiden Teile des drei Meter langen Transparents auf. Letzteres trägt den Text: „Funkspruch an alle … Funkspruch an alle … Die Kirche in der DDR klagt den Kommunismus an! Wegen Unterdrückung in Schulen an Kindern und Jugendlichen.“ Schon allein dieser Text ist nach Auffassung der DDR-Obrigkeit eine unerhörte Provokation, die an den Grundfesten des Arbeiter- und Bauerstaates rüttelt und demzufolge einen Straftatbestand erfüllt.
Brüsewitz gießt sich den Inhalt der Milchkanne über den Talar. Wie zufällig beginnen die Glocken der Michaeliskirche zu läuten, weil zeitgleich eine Bestattungszeremonie auf dem Friedhof stattfindet. Mit einem Streichholz entzündet er seine Bekleidung und steht augenblicklich in hohen Flammen. Die Passanten sind schockiert. Da sich ihre Aufmerksamkeit auf den brennenden Mann richtet, nehmen sie den Text auf den Plakaten und dem Transparent nur bruchstückhaft wahr. Als lichterloh brennende Fackel läuft Brüsewitz etwa 20 Meter auf das nahe Gebäude der evangelischen Kirchenverwaltung, der Superintendentur, zu. Vor einer Telefonzelle bringt ihn ein Mann in NVA-Uniform zu Fall, während ein herbeieilender Kraftfahrer Decken über ihn wirft und so die Flammen ersticken kann. Mehr als einhundert Neugierige kommen nun am Ort des grausigen Geschehens zusammen.
Polizei und Feuerwehr werden informiert. Sie erscheinen auch rasch. Während ein Löschzug der Feuerwehr die Flammen an der Heckfront des „Wartburg“ und die auf dem Straßenpflaster bekämpft, stellen staatsbewußte Bürger gemeinsam mit Polizisten Plakate und Transparent mit den ketzerischen Texten als Beweismittel sicher. Brüsewitz wird sowohl von einer Mitarbeiterin der Superintendentur als auch von Passanten erkannt. Er lebt, ist aber nicht ansprechbar. Dann trifft ein Krankenwagen ein. Notdürftig versorgt, wird Brüsewitz in das Zeitzer Kreiskrankenhaus eingeliefert. Die schweren Brandwunden, die sich über mehr als 80 Prozent der Körperoberfläche erstrecken, begründen eine akute Lebensgefahr. Die dortigen medizinischen Möglichkeiten reichen jedoch nicht aus, um eine sachgerechte Intensivtherapie zu gewährleisten. Deshalb wird Brüsewitz kurz nach 11.00 Uhr in das Bezirkskrankenhaus Halle-Dölau überführt. Ab 13.00 Uhr kann
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